Fast hätte ich es vergessen, es ist wurscht, ob der Arbeitgeber zornig ist, es gibt ja eine Gesetzeslage. Fast hätte ich es vergessen, wie es ist, am Limit zu sein und seit fünf Monaten kein Gehalt mehr bekommen zu haben. Fast hätte ich es vergessen, es sind so viele, 3,7 Millionen Pflichtmitglieder hat die Arbeiterkammer, die der Handelskammer gegenübersteht, die rote Kammer neben der schwarzen, die beiden politischen Kräfte, die sozialpartnerschaftlich institutionalisiert wurden. Es gibt ihn also immer noch, diesen Ort, an den man sich wenden kann, und, um es gleich zu verraten: Es ist ein Ort der endlosen Wiederholungen.

Die Arbeiterkammer als Institution, an die man sich wenden kann – und als Ort des Wartens: Filmstill aus "Für die Vielen".
Foto: Navigator Film

Da ist die Frage nach dem Arbeitgeber. Wie viele Stunden. Die Krankheit. Wie lange schon nicht gezahlt. Kam es zur Kündigungsandrohung? An welche Adresse? Jede vorgebrachte Klage klingt nach einer wiederholten, weil die Antworten zunächst einmal in der ewig gleichen Erklärung des Prozederes münden. "Nehmen Sie Platz im Bereich D oder B, Sie werden dann aufgerufen." Und ich nehme Platz. Gerne. Ich würde auch gerne wissen, wie es weitergeht. Und es geht weiter.

Mühen der Ebene

Der Film Für die Vielen von Constantin Wulff ist eine großartige Erinnerung an das Klein-Klein des Kampfs um gerechte und faire Entlohnung, um die Rechte der Arbeitnehmer:innen, vielleicht das, was Bertolt Brecht als "Mühen der Ebene" bezeichnete, eine Erinnerung an das, was man mehr oder weniger verdrängen möchte, dass "die Vielen" einer Herrschaft unterworfen sind, von Eigentümern, Arbeitgebern, ob Firma, Unternehmen oder Personen. Einer Herrschaft mit einem grundsätzlichen Hang zur Ausbeutung und, wie man am Ende des Films sehen wird, zum massiven Betrug, dem am effektivsten mit juristischen Mitteln zu begegnen ist. Dieses Klein-Klein ist allerdings angewiesen auf die Diskussion der großen Zusammenhänge, der kulturellen Eingewobenheit, weswegen Wissensproduktion, kulturelle Äußerung und politische Einmischung für diese einzigartige Institution integrale Bestandteile sind.

Wulffs Film zeigt die Systematik der Ausbeutung, es wirkt, als wären die Bedingungen für eine moderne Sklavengesellschaft perfekt eingerichtet.

Ob im Theater Akzent, auf der großen Bühne, in der Teamsitzung oder im Parlament. Natürlich produziert auch dieser Film Helden. Aber man kann sagen, dass es eher ein heldischer Plural ist, bestehend aus Erstansprechpartnern, Rechtsanwälten, Teamleitern, Wissenschaftern, Geschäftsführung und Präsidium, dem der drastische Plural der "Vielen" – die Hilfesuchenden – gegenübersteht.

Der Film drängt einen in eine soziologische Haltung, wir beobachten Physiognomien, Sprechweisen, Haltungen des Hörens und Arbeitens. Organisiert wird unsere Wahrnehmung aber vielmehr durch ein räumliches Prinzip. Die Montage lässt uns von den Orientierungsdesks in die Besprechungszimmer wandern, hinter dem Postdienst her weiter zu den Büroräumen der Leitungsebene, um wieder zum Wartebereich zurückzukehren, wo wir Putzkräften zusehen, die sich um den Erhalt des Gebäudes kümmern. Eingerahmt wird unsere filmische Reise von dem Koloss der Arbeiterkammer im vierten Wiener Gemeindebezirk, am Ende erweitert durch zahlreiche Perspektiven auf sozialistische Bauten in Wien, vom ARBÖ bis zu den Gemeindebauten, um vielleicht den Zusammenhang zwischen den Hilfesuchenden und den Hilfestellenden aus dem Hier und Jetzt zu holen, ihm eine historische Perspektive zu verleihen.

Die Arbeiterkammer und ihre Geschichte im Film "Für die Vielen".
Foto: Navigator Film

Diese zu Stein gewordenen Institutionen sind gewachsen, wurden erkämpft, sind in ihrer schieren Existenz keinen Legislaturperioden unterworfen. Der Film selbst ist in einer interessanten Nähe-Distanz-Bewegung zu seinem Gegenstand gehalten. Dass in Für die Vielen die Kampagne für "100 Jahre Arbeiterkammer" eine große Rolle spielt, ist im ersten Moment irritierend, als wäre er selbst Teil davon, um gleich in eine analytische Distanz zu gehen.

Selbstdarstellung

Plötzlich sehe ich Menschen vor Flipcharts, an die ich mich nicht erinnern muss. Eine akademische Schicht, gut angezogen, diskursiv gut aufgestellt, spricht über Bobos, als zählte sie selbst nicht dazu und weist auf das politische Erbe der Arbeiterbewegung hin, die gerade in dem Bündnis von Industriearbeiterschaft und jüdischer Intelligenz entstanden ist, das heute als Widerspruch konstruiert wird.

Wenn es dann schließlich heißt, "Das kann man schon so framen, dass sich das ausgeht", bin ich irritiert, dass eine so essenzielle Institution so sehr um ihre Selbstdarstellung ringen muss und von dem Verlust der Reichweite unter den Jungen besessen ist. Eine ängstliche Haltung, die sich auch in meiner Welt als Schriftstellerin durchzieht, ob in Medien oder Institutionen, immer fein kontrastiert durch die gesellschaftlichen Schulden, die weiterhin bei den Jungen bleiben.

Wulffs Film ist auch ein Dokument der Pandemie. Ihr Einbruch im Winter 2020 setzt neue Maßstäbe, fordert gerade in einem Land heraus, in dem die oberen ein Prozent rund 40 Prozent des Gesamteinkommens besitzen und die unteren fünfzig gerade mal 2,8 Prozent. Der Kampf wird verzweifelter, die Unsicherheit ist den Protagonisten anzumerken, die Verwaisung des Hauses eine Bedrohung.

Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg, lebt als Schriftstellerin in Köln, wo sie seit 2020 Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien ist.

Man ist fast dankbar, dass der in diese Zeit fallende Auftritt des französischen linken Ökonomen Thomas Piketty noch einmal auf die zentrale Antwort der Institution hinweist: Transparenz ist unsere stärkste politische Waffe. In der juristischen Arbeit wie in den großen wissenschaftlichen Studien. Sie leidet aber unter den Maßnahmen der Pandemie und der neoliberalen Entbürokratisierung der Arbeitgeber gleichermaßen. Und so schält Constantin Wulff am Ende seines Films die Systematik der Ausbeutung immer schärfer heraus, es wirkt so, als wären die Bedingungen für eine moderne Sklavengesellschaft perfekt eingerichtet, ob im Bau, in der Dienstleistung oder Pflege.

"Die ersten beiden Wochen haben sie einen menschlichen Eindruck gemacht, wir durften trinken." Rund 80 Prozent der vollbeschäftigten Reinigungskräfte, zum Großteil weiblich, können von ihrem Gehalt nicht leben. Im Einzelhandel sind es 70 Prozent. Die letzten Worte in diesem Film lauten: "Natürlich ist die Verzweiflung groß." Doch im echten Leben ist es tröstlich zu wissen, dass darauf wieder die Auskunft erfolgt: "Sollte etwas nicht in Ordnung sein, werden wir weitere Schritte einleiten." Vorerst warten wir im Wartebereich B oder D. (Kathrin Röggla, 24.9.2022)