Ende September kommt der Autor zum Humanities Festival.

Foto: Heribert Corn

Daniel Kehlmann ist nicht nur einer der erfolgreichsten Schriftsteller im deutschen Sprachraum, er ist zudem auch noch einer der höflichsten, zum Beispiel, wenn es um die Anbahnung eines E-Mail-Interviews geht. Findet er nicht gleich die Zeit für eine Antwort, entschuldigt er sich, und so folgen wir dem vielbeschäftigten Autor via Mail aus der Hitze Spaniens ins unterkühlte Großbritannien, die Antworten kommen dann aus New York, und sie fallen wegen "Jetlag und wahnsinnig vieler Termine" um einiges kürzer aus als vereinbart, dafür sind sie umso klarer in ihrer Aussagekraft.

STANDARD: Herr Kehlmann, Sie haben sich in Ihrem Werk immer wieder auch in die Köpfe von Mathematikern versetzt. Sind Sie einer, der sich seine Gas- und Stromrechnung genau anschaut und den Tarifdschungel angesichts der Energiekrise noch durchschaut?

Kehlmann: Nein, ich bin in allen praktischen Anwendungen von Zahlen völlig hilflos. Ich kann auch überhaupt nicht rechnen. Mich interessieren Mathematiker viel mehr als die Mathematik.

STANDARD: Machen auch Sie die derzeitigen Entwicklungen unsicher? Stehen wir angesichts der vielen Krisen – Klima, Energie, Krieg, Migration, Pandemie, Demokratieverlust – an der oft postulierten "Zeitenwende"?

Kehlmann: Ja, und Sie haben das Schlimmste gar nicht genannt: Die sozialen Medien, deren Algorithmen darauf ausgerichtet sind, "emotionales Engagement zu maximieren", wie das heißt, mit anderen Worten: Wut und Aufregung zu säen. Wenn sie auf Youtube Videos bei irgendeinem harmlosen Thema anfangen und dann immer den Vorschlägen des Algorithmus folgen, enden Sie in kürzester Zeit schon bei Verschwörungstheorien. Alle fragen sich, warum die Menschen plötzlich so voll Hass sind und so verunsichert in den letzten Jahren. Die Antwort liegt auf der Hand. Nicht das Internet, das wäre zu allgemein. Die Algorithmen der sozialen Medien.

STANDARD: Beim Humanities Festival, das in Wien unter dem Titel "The Age of Uncertainty" heuer vom 27. September bis zum 2. Oktober stattfindet, gibt es eine szenische Lesung Ihres Theaterstücks "Geister in Princeton". Wie sind Sie auf diesen Stoff und auf den genialen Mathematiker Kurt Gödel gestoßen, der mit seinem "Unvollständigkeitssatz" die mathematische Logik revolutionierte? Was hat Sie an seiner Person und Biografie fasziniert?

Kehlmann: Wer sich für Logik interessiert, kennt Kurt Gödel. Nicht jeder weiß aber, dass er an Gespenster geglaubt hat. Man könnte sagen, das beste Argument für die Existenz von Gespenstern ist der Umstand, dass Kurt Gödel an sie geglaubt hat. Darüber, dachte ich, muss ich schreiben.

STANDARD: "Der größte Logiker aller Zeiten glaubte an Engel und Gespenster. Wie soll unsere Zunft damit fertig werden?" Diesen Satz lassen Sie Harry Woolf, den Direktor des Institute for Advanced Studies in Princeton, wo Gödel in den USA unterkam, über ihn im Stück sagen. Auch uns bescheren derzeit die Zeitgeister jede Menge Aberglaube, siehe Esoterik, Spiritualitätsangebote und Verschwörungstheorien etc. Wie soll eine Gesellschaft damit umgehen?

Kehlmann: Ich habe eine Antwort, aber sie ist nicht realistisch. Man müsste Portale wie Youtube, Facebook und Twitter zwingen, ihre Empfehlungsalgorithmen abzuschalten. Ich habe aber keine Hoffnung, dass das geschehen wird.

STANDARD: Es gibt vielfach auch schon Plädoyers gegen Angst und Angstmacherei (auch die der Medien), ich halte dem entgegen, was Sie Kurt Gödel in "Geister in Princeton" zu seiner Frau Adele sagen lassen: "Sich zu fürchten ist nie falsch." Ist sich zu fürchten nie falsch?

Kehlmann: Gödel ist paranoid, aber wie viele Paranoide hat er auch recht. Es gibt jedenfalls immer guten Grund zur Furcht.

STANDARD: Was können in so unsicheren Zeiten Literatur oder Kunst bewirken?

Kehlmann: Das Gleiche wie immer schon: eine Schule der Aufmerksamkeit und der menschlichen Empathie. Und eine Begegnung mit Geist und Schönheit und Witz.

STANDARD: Mit Ihrem Roman "Die Vermessung der Welt" über den Wissenschafter und Forschungsreisenden Alexander von Humboldt und den Astronomen und Mathematiker Carl Friedrich Gauß wurden Sie weltbekannt. Im Wort Vermessung liegt auch das Wort "vermessen". Stehen wir am Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur?

Kehlmann: Wir haben die Natur immer nur partiell beherrscht. Am Ende hat die Natur über jeden einzelnen Menschen dann doch gewonnen: Bisher ist noch jeder gestorben.

STANDARD: Sie gelten als sehr belesen – und schreiben Ihre Bücher mittlerweile wieder mit der Hand. Wie könnte heute ein zeitgemäßer, idealer Bildungskanon ausschauen? Stichwort: Digitalisierung. Ich frage Sie das auch in Ihrer Rolle als Vater. Wie beurteilen Sie da aktuelle Entwicklungen?

Kehlmann: Das mag seltsam klingen, aber ich glaube nicht an einen Kanon. Klassiker sind Werke, die aus eigener Kraft überlebt haben, nicht weil sie auf irgendwelche Listen gesetzt wurden. Man muss Kinder zum Lesen bringen, darauf kommt alles an. Wenn sie dann Leser sind, werden sie ihren Weg zu den guten Büchern von selbst finden, da sind Empfehlungen der Deutschlehrer sogar eher hinderlich. Wer möchte schon das lesen, was sein Lehrer empfiehlt?

STANDARD: Während der Pandemie ist der Bedarf an Therapie bei Kindern und Jugendlichen stark gestiegen. Wie sollen wir den Verunsicherungen bei jungen Menschen begegnen?

Kehlmann: Indem wir nicht neue sinnlose Lockdowns durchführen, indem wir nicht mehr die Spielplätze und die Schulen schließen und eine ganze Generation von Kindern in die Vereinsamung treiben. Indem wir bei der nächsten Pandemie bessere und klügere Maßnahmen treffen als bei der letzten.

STANDARD: Sie haben lange in New York gelebt und dort miterlebt, wie Spaltung und Unsicherheit zu politischen Kategorien geworden sind. War das ein Grund, den Lebensmittelpunkt wieder nach Europa zu verlegen?

Kehlmann: Das hatte eher private Gründe, aber die Vereinigten Staaten sind schon in einer ganz außergewöhnlich gefährlichen Situation, es ist nicht zu leugnen. Ein Großteil der republikanischen Kandidaten scheint entschlossen, Wahlen nur zu akzeptieren, wenn man sie gewonnen hat. Wie soll das nicht in die Katastrophe führen? Ehrlich gesagt, ich habe keine Antwort.

STANDARD: Wo sehen Sie die Chancen in und für Europa?

Kehlmann: Die EU ist immer noch und trotz allem das große hoffnungsvolle Zukunftsprojekt in dieser Welt. Daran hat sich nichts geändert.

STANDARD: Gibt es etwas, das Ihnen dieser Tage abseits vom Zukunftsprojekt Europa noch Hoffnung macht?

Kehlmann: Der Ukraine-Krieg hat offengelegt, wie tief die russische Korruption unsere Gesellschaft durchwirkt hat, wie sehr wir abhängig waren von russischem Gas und Öl und von der Kleptokratie, die diese Bodenschätze ausbeutet und ihr eigenes Land bestiehlt. In dieser großen moralischen Klärung liegt auch eine Chance.

STANDARD: Am 15. Oktober wird an der Burg Ihr Stück "Nebenan" uraufgeführt. Sie haben einmal ein Theater verlassen, weil Sie Ihr Stück nicht wiedererkannt haben. Unsicher, dass das wieder passieren könnte?

Kehlmann: Das ist zehn Jahre her! Und es war in einem kleinen Frankfurter Boulevardtheater, wo man meinen Text so umgeschrieben und mit dummen Witzen angereichert hatte, dass ich mich einfach nicht dafür verbeugen wollte – weil das Stück nicht mehr von mir war. Ich wollte kein Zeichen setzen durchs Hinausgehen, ich wollte mich nur einfach nicht verbeugen für diesen Unsinn, für den ich nicht verantwortlich war. Nein, ich habe keinerlei Sorge, dass so etwas im Burgtheater passieren könnte.

STANDARD: Herr Kehlmann, sicher ist ...? Was würden Sie sagen?

Kehlmann: Wie man so sagt: Tod und Steuern. (Mia Eidlhuber, 27.9.2022)