In ihrem Gastbeitrag schildert Sozialarbeiterin Sophie Lindtner die schwierige Lage von indigenen Widerstandsbewegungen in Mexiko und berichtet über die Rolle von Menschenrechtsbeobachtung in zwei Gemeinden.

Ist dies eine weitere Erzählung einer weißen, europäischen Reisenden, die Lateinamerika erkunden will? Und vielleicht sogar so was wie Entwicklungshilfe leisten will?

Nein. Menschenrechtsbeobachtung ist mit einem politischen Anspruch verbunden, der von neokolonialen, imperialistischen Bestrebungen Abstand nehmen will. Sie wird dort als Instrument eingesetzt, wo es zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Idee dahinter ist, dass unter internationaler Beobachtung die gewaltausübenden Gruppen oder Institutionen von ihren angedachten Gewalttaten absehen sollen, um so nicht ihren Ruf zu verlieren. In meiner Zeit als Menschrechtsbeobachterin in Mexiko habe ich mich mit den politischen Kämpfen der Zapatistas und der Abejas auseinandergesetzt.

Die aktuelle internationale Berichterstattung über Mexiko fokussiert sich auf das Erdbeben vom 19. September dieses Jahres. Jedoch wird der mexikanische Staat nicht nur immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht, sondern ist auch selber immer wieder mitverantwortlich für das Leid vieler in Mexiko lebenden Menschen. Neben anderen Minderheiten werden die Zapatistas und die Abejas – beide autonome Organisationen indigener Gemeinden in Chiapas/Mexiko – unterdrückt und struktureller Gewalt ausgesetzt.

Mit Bedachtnahme auf die Kolonialgeschichte Mexikos und auf die seither weiterhin existierende Unterdrückung der indigenen Bevölkerung haben sich 1983 die Zapatistas und 1992 die Abejas als autonome Organisationen gegründet. Ihr Ziel war und ist es nach wie vor, ein würdiges, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Ihr Widerstand richtet sich dabei vor allem gegen staatliche Repression und Gewalt, welche – innerhalb der kapitalistischen, neokolonialen und imperialistischen Verhältnisse – immer wieder dazu geführt haben, Indigene zu enteignen, zu vertreiben, zu foltern und zu ermorden.

Ortstafel von Nuevo San Gregorio.
Foto: Sophie Lindtner

Die Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) erlangte 1994 öffentliches Aufsehen, als sie sich als Reaktion auf das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) mit Waffen erhob. "Ya basta" – es war genug. Genug der Ausbeutung, der Verachtung und der Erniedrigung. Der bewaffnete Aufstand war Ausgangspunkt für einen Dialog zwischen Zapatistas und der Regierung – ein Scheindialog. In den folgenden Jahren stellte sich heraus, dass Vereinbarungen vonseiten der Regierung nicht eingehalten wurden und die Dialogbereitschaft als Täuschung diente, um sich währenddessen militärisch zu rüsten. Damit sollte die EZLN ausgelöscht und die zapatistischen Unterstützungsbasen voneinander isoliert werden. Sich solidarisierende Sympathisierende sollten eingeschüchtert und gegen die Zapatistas aufgebracht werden. Die Ära des "Krieges der niederen Intensität" wurde eingeleitet.

Im Kontext der Aufstandsbekämpfung (spanisch: "contrainsurgencia") wurde systematisch falsche Information über die Zapatistas verbreitet, um so die öffentliche Meinung zu manipulieren. Einerseits sollte so das Machtgefüge in Mexiko aufrechterhalten werden, andererseits hatte die Aufstandsbekämpfung zum Ziel, die Gemeinden zu spalten. Neben militärischen Angriffen wurden verstärkt staatliche Programme in indigenen Gemeinden beworben. Was im ersten Moment als sozialstaatliche Maßnahme erscheinen mag, hat ebenso vielmehr zum Ziel, die Organisation zu spalten und in weiterer Folge zu schwächen. Während viele ihren Autonomiebestrebungen treu bleiben, beanspruchen andere doch staatliche Leistungen, welche jedoch meist zeitlich begrenzt vergeben werden, und verlassen die Organisation.

Entzug der Lebensgrundlage

Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Notwendigkeit der Menschenrechtsbeobachtung in Nuevo San Gregorio zu sehen. In diesem kleinen Dorf in Los Altos in Chiapas, Bezirk von Huixtla, wo aktuell 28 Menschen leben, wird seit dem November 2019 von Nachbarsdörfern versucht, Land zu rauben. Der Großteil der insgesamt 155 Hektar Land wurde bereits besetzt. Einige der "Invasoren", wie sie von den Zapatistas genannt werden, waren Teil der zapatistischen Organisation, bis sie sich aufgrund der kapitalistischen Versprechen abspalteten und Eigentum generierten. Wenn auch durch illegitime Mittel, nämlich indem sie das Land – großteils bewirtschaftete Felder und Weideflächen – einnahmen. Zum Zeitpunkt unserer Beobachtung hat sich die Situation gerade sehr zugespitzt. Neben der Ausweitung des Zauns und der Einnahme weiterer Flächen wurde eine Wasserleitung gekappt, das Vieh vom Zugang zu den Häusern der Zapatistas getrennt und zwei der vier Ortstafeln symbolträchtig mit Macheten zerstört.

Symbolische Vernichtung der Gemeinde.
Foto: Sophie Lindtner

Diese Umstände veranlassten die Männer von Nuevo San Gregorio dazu, rund um die Uhr zu beobachten, was als Nächstes geschieht. Der Großteil der Frauen und Kinder verließ aus Angst kaum noch die Häuser. Die Bewohnerinnen und Bewohner waren neben ihren Existenzängsten, da sie keine Felder mehr hatten, großen psychischen Belastungen ausgesetzt. Sie haben große Angst, vertrieben und gänzlich enteignet zu werden. Noch ist unklar, ob es dazu kommen wird. Denn die andere Seite all des Schmerzes und der Wut ist ein immens starker Wille, weiterzukämpfen und die Hoffnung nicht aufzugeben, dass sie ihr Land verteidigen können. Dabei sehen sie sich selbst als Wachende, nicht als Besitzende des Stückes Landes – "la tierra no es de nosotros, nosotros solo somos los guardeanos / as de ella".

Die in Nuevo San Gregorio lebenden Menschen sind in stetigem Austausch mit der Junta de buen gobierno (= Räte der guten Regierung), welche aus demokratisch von den Völkern gewählten Delegierten besteht, und mit Frayba, der Menschenrechtsorganisation in San Cristobal de las Casas. Ihre Art der Konfliktbearbeitung beziehungsweise der Verteidigung ihres Landes ist ein politischer, kein militärischer.

Gerechtigkeit durch basisdemokratische Organisation

Dies erscheint mir wichtig zu erwähnen, da die Zapatistas oft mit einer Guerillabewegung gleichgesetzt werden. Hier muss die Differenzierung vorgenommen werden, dass die EZLN geschichtlich aus einer Vereinigung von Guerillabewegung und marxistischen Studierenden entstanden ist. Während des Aufstands 1994 und in den folgenden Jahren wies die Organisation eine politisch-militärische Struktur auf. Mit der "Sexta Declaración de la Selva Lacandona" wurden jedoch 2006 die "Räte der guten Regierung" geschaffen, um so die Demokratie anstatt der Armee als zivile Instanz der politischen Selbstverwaltung zu installieren. Von da an wurde nach dem Prinzip des "gehorchenden Regierens" gehandelt, was bedeutet, dass die basisdemokratisch gewählten Autoritäten keinerlei (Entscheidungs-) Macht haben, sondern lediglich umsetzen, was ihnen die Basis aufträgt.

Versammlungsort im Zentrum der Gemeinde.
Foto: Sophie Lindtner

Historisch anderen, nämlich befreiungstheologischen Ursprungs sind die Abejas. Ihr Kampf weist eine große religiöse und pazifistische Komponente auf. Die Abejas erlangten erstmals 1997 internationale Aufmerksamkeit – nach dem Massaker von Acteal. Seit Mitte 1997 haben einige 100 vertriebene beziehungsweise von Paramilitärs bedrohte Indigene Zuflucht in Acteal gesucht. Am 22. Dezember 1997, als gerade gefastet und für Frieden gebetet wurde, stürmten Paramilitärs in polizeiähnlicher Uniform und mit hochkalibrigen Waffen Acteal und töteten 45 Menschen sowie vier Ungeborene. Das Massaker muss im Zusammenhang mit der bereits erwähnten, von der mexikanischen Regierung durchgeführten Aufstandsbekämpfung verstanden werden. Die paramilitärische Gruppierung war die ausführende Einheit, während die Regierung – wie in der Aufdeckung des "Plan de Campana Chiapas 94" ersichtlich wurde – das Vorhaben hegte und die Aufträge dafür verteilte, dass autonome indigene Gemeinden ausgelöscht werden. Vor allem jene, die mit den revolutionären Idealen der Zapatistas sympathisierten.

Das Massaker von Acteal sollte als Abschreckung und als Warnung dienen, dass, wer sich nicht ins staatliche Gefüge integriert, Ähnliches erleiden wird. Mit dieser systematischen Ermordung indigener Menschen und der darauffolgenden Straflosigkeit der dafür verantwortlichen Autoritäten wird das Ausmaß der Korruption und der Gewaltanwendung durch den mexikanischen Staat ersichtlich. Die Abejas ihrerseits gedenken seither jeden 22. des Monats der ermordeten Verbündeten und setzen sich politisch wie religiös für Frieden und Gerechtigkeit ein.

Zunahme der Bedrohungen

Die Menschenrechtsbeobachtung in Acteal dient derzeit eher dem Zweck, sich solidarisch mit den 25 Familien der Abejas zu zeigen, als dass ein aktueller Konflikt vorherrschte. Es soll ihnen vermitteln, dass sie ihren Kampf nicht allein führen müssen, sondern dass sie auf nationale wie internationale Unterstützung zählen können. Was wir in Gesprächen immer wieder hören, ist, dass in den umliegenden Dörfern nach wie vor Personen erscheinen, welche staatliche Programme bewerben. Die Methoden der Aufstandsbekämpfung, um die Abejas als Organisation zu spalten und gegeneinander aufzubringen, finden also nach wie vor Anwendung. Auch die weiterhin stattfindende Gewaltanwendung durch Paramilitärs und das organisierte Verbrechen (Narcos) in Chenalho und Pantelo, den Bezirken, wo die Abejas leben, findet kein Ende. Vielmehr ist eine Ausdifferenzierung und Multiplizierung von gewaltausübenden Gruppen zu verzeichnen.

Versammlungsort in Acteal, wo 1997 das Massaker stattgefunden hat
Foto: Sophie Lindtner

Der Mord an Simon Pedro im Juli 2021 zeigt außerdem, dass sich Personen, welche sich für Menschenrechte einsetzen, einem großen Risiko aussetzen, jenem der strukturellen Gewalt. Simon Pedro war 2020 Präsident der "Mesa directiva" der Abejas (Äquivalent zur "Junta de buen gobierno" der Zapatistas) und setzte sich aktiv für Frieden, Gerechtigkeit und Autonomie der indigenen Bevölkerung ein. Trotz der vielen Versuche, die Abejas als Organisation auszulöschen, feiern sie heuer ihr 30-jähriges Bestehen sowie das 25-jährige Gedenkjahr für das Massaker von Acteal. Es wird ein Dokumentarfilm erscheinen, ebenso wird gerade der Versuch unternommen, das erste Buch der Abejas – nicht über die Abejas – zu schreiben.

Gewalt auf verschiedenen Ebenen

Menschenrechtsbeobachtung stellt ein politisches Instrument dar, mit welchem internationale Aufmerksamkeit auf schwere Menschenrechtsverletzungen von vulnerablen Gruppen gelenkt werden soll. Der hegemonial geführte Diskurs – in diesem Fall über die indigene Bevölkerung von Chiapas, Mexiko – verschleiert einen Teil der Realität; nämlich jenen, der die Verantwortung für die Ausführung der Menschenrechtsverletzungen betrifft. In Mexiko können drei Institutionen beziehungsweise Gruppierungen als Hauptverantwortliche ausgemacht werden, wobei nicht immer eine klare Trennung möglich ist:

  1. Die Regierung, sowohl national, föderal als auch auf Gemeindeebene, inklusive unter ihrem Auftrag stehender Institutionen wie Polizei und Militär.
  2. Als weitere Säule der Gewaltanwendung an der indigenen Bevölkerung sind – ebenfalls von Staatsseite beauftragte – paramilitärische Gruppierungen zu nennen. Die Auslagerung an Paramilitärs hat den Nutzen, dass begangene Straftaten nicht direkt mit dem Staat in Verbindung gebracht werden und die eigentlich Verantwortlichen Straflosigkeit genießen.
  3. Die dritte Säule stellt jene des organisierten Verbrechens dar, worunter die Narcos fallen.

Menschenrechtsbeobachtung kann dort angewendet werden, wo Menschen oder Institutionen etwas zu verlieren haben. Da sich das organisierte Verbrechen außerhalb der Systemgrenzen befindet und keinen Ruf verlieren kann, weil bekannt ist, dass es auf Gewalt aufbaut, wäre eine Beobachtung in diesem Sektor schlicht zu gefährlich. Und vermutlich wenig zielführend.

Ein "weißer Körper" zwischen den genannten Beteiligten und den autonomen, indigenen Gemeinden soll präventiv die direkte Gewaltanwendung verhindern. Wenn diese stattfindet, so das Motto, dann lieber hinter verschlossenen Türen und ohne internationale Aufmerksamkeit zu erregen. Neben der Solidarität und der Nichtintervention ist also Präsenz-Zeigen ein wichtiges Prinzip der Menschenrechtsbeobachtung. Ansonsten ist erwünscht, sich eher passiv zu verhalten, um eben neokoloniale Einflussnahme auf indigene Gemeinden zu verhindern. Dies ist angesichts angespannter Situationen nicht unbedingt einfach, doch erforderlich, um nicht ein System, das radikal kritisiert wird, zu reproduzieren. Wichtige Voraussetzungen für die Beobachtung sind meines Erachtens daher neben der Schaffung eines politischen Bewusstseins eine Reflexion, mag sie noch so unangenehm sein, über die eigene privilegierte Position in der Gesellschaft.

Gewaltvolle Verhältnisse bergen Gefahren

Jetzt, wo dieser Artikel veröffentlicht wird, bin ich bereits zurück in Österreich. Der Zeitpunkt ist ganz bewusst so gewählt, um sich als Menschenrechtsbeobachterin durch die Veröffentlichung der Erfahrungen keinen Risiken in Mexiko auszusetzen. Dies ist eine von vielen Empfehlungen für Sicherheitsvorkehrungen, die von Menschenrechtsorganisationen getroffen werden können, um das Risiko von Bedrohungen oder repressiven Maßnahmen zu minimieren. Absolute Sicherheit kann nicht gewährleistet werden, da es diese sowieso nicht und noch weniger innerhalb der mexikanischen Staatsgrenzen gibt. Für Personen der Menschenrechtsverteidigung vor Ort gibt es die Möglichkeit der Berichterstattung aus dem Ausland nicht, weshalb diese auch immer wieder Gefahr laufen, sich selbst zur Zielscheibe von Menschenrechtsverletzungen zu machen.

Leider muss festgestellt werden, dass ein Anstieg von schweren Menschenrechtsverletzungen (Entführungen, Folter, Mord und vieles mehr) in ganz Mexiko verzeichnet werden muss. Auch in Nuevo San Gregorio wurde die Beobachtung mittlerweile eingestellt, da es zu Überfällen und Entführungen von Zivilpersonen mit anschließender Lösegelderpressung gekommen ist. Erst am 8. September dieses Jahres wurden die autonome Hauptschule und ein Haus geplündert sowie Mitarbeitende von Frayba angegriffen. Die Bedrohungen und Gewaltanwendungen nahmen sukzessive zu, sodass der Schutz von Personen der Menschenrechtsbeobachtung nicht mehr gewährleistet werden kann.

Gerade deshalb ist es unsere Pflicht als internationale Zivilgesellschaft, von der Ferne einzuschreiten, Haltung zu zeigen und aufzuklären. Was sich die Zapatistas wünschen, wünschen sich viele von uns, nämlich eine Welt, in der viele Welten Platz haben.

Solidarisieren wir uns!

La lucha sigue! Der Kampf geht weiter! (Sophie Lindtner, 24.9.2022)