Seriös und stylish? Geht beim Italo-Schweizer Lorenzo Viotti prima zusammen.

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Der Ersteindruck vom Gesprächspartner: Konzentrierter Ernst mischt sich mit einer selbstverständlichen körperlichen Präsenz. Sogar in T-Shirt und Shorts (das Interview fand noch bei Spätsommertemperaturen statt) macht Lorenzo Viotti "bella figura". Beide Kleidungsstücke sind farblich aufeinander abgestimmt und von Stil und Preisklasse her eher Via Condotti als Wühltisch vom Textilgroßhändler. Hat Viotti heute schon Sport gemacht? "Ja, um sieben Uhr in der Früh. Athletiktraining, Pilates, Dehnen."

Wenn man sich (wie einhunderttausend andere Follower) die Bilder anschaut, die er auf Instagram stellt, dann könnte man meinen: Lorenzo Viotti ist der glücklichste Mensch der Welt. Wenn der 32-Jährige nicht gerade ein tolles Orchester dirigiert, dann ist er am Sporteln: fährt Mountainbike, stemmt Gewichte, spielt Tennis. Mal posiert der Werbepartner einer italienischen Luxusmarke auf einer Yacht, mal brettert er mit Bruder Alessandro im Lamborghini durch die Gegend. Lorenzo Viotti, Liebling der Götter.

Viel Glück im Leben

Stimmt dieser Eindruck? Na ja, relativiert Viotti im Gespräch. Es gebe tatsächlich viel Glück in seinem Leben: Er würde beruflich das machen, was er liebe. Seine Freunde und seine Familie würden ihm guttun. "Natürlich habe ich auch Tage, an denen es mir schlecht geht", räumt der gebürtige Schweizer in der Probebühne der Wiener Staatsoper im Arsenal ein. Aber seine negativen Erlebnisse würde man später nicht auf Instagram finden, sondern "in der Musik, die ich dirigiere".

Die Musik, die Viotti bei seinem Debüt an der Staatsoper kommenden Donnerstag dirigiert, passt hervorragend zu düsteren Empfindungen: Mahlers Märchenkantate Das klagende Lied und dessen Kindertotenlieder.

Das erste der beiden Werke, quasi Mahlers Opus 1, wird äußerst selten gespielt. Dabei ist Das klagende Lied von Beginn an großes Kino für großes Orchester. "Da ist schon alles drin, was später in seinen Symphonien kommt", schwärmt Viotti, "die Dramatik, die Farben, der Raumklang, aber auch die Liebe für die Natur, die Sehnsucht, die Einsamkeit." Schon früh hat der Dirigent Symphonien von Mahler aufgeführt. Dabei hätte er, gesteht Viotti, zu Beginn "vielleicht zu sehr auf große Wirkung, auf Überwältigung, auf romantische Schönheit fokussiert". Bei Mahler müsse man auch Mut zu Schärfe und Hässlichkeit haben.

Vertrautes Terrain

An der Staatsoper werden die zwei konzertanten Werke von Calixto Bieito unter dem Titel Von der Liebe Tod erstmals in eine theatralische Form gebracht. Wie geht Viotti ein so spezielles Projekt wie dieses an? Dafür gebe es keinen genauen Plan, meint er. Nach und nach kämen alle Mitwirkenden zusammen. "Ich rede am Anfang nicht viel, ich höre lieber zu, nehme Anregungen auf." Proben findet der Dirigent grundsätzlich spannender als Aufführungen. Bei diesen sei dann überraschenderweise nicht die absolute Kontrolle das Ziel, sondern "das Momentum".

Wien ist für Viotti vertrautes Terrain, hat der Sohn des berühmten Dirigenten Marcello Viotti doch auf Anraten Bertrand de Billys hier vier Jahre studiert – und dabei auch als Schlagwerk-Substitut im Staatsopernorchester und im Notenarchiv des Hauses ausgeholfen.

Wie waren seine Wiener Jahre? Viotti versucht lachend eine Zusammenfassung: "Ich habe nie geschlafen. Ich habe fünfmal pro Woche getanzt und gefeiert. Mindestens. Ich hatte so viele Probleme an der Universität!" Sein Lebensmotto in dieser Zeit: "Ich wollte einfach alles machen." Um sechs Uhr in der Früh raus aus einem Club, um elf Probe mit Pierre Boulez als Mitglied des Singvereins. "Es war extrem chaotisch, aber es war großartig!"

Pause vom Turbomodus

Ist Viotti heute immer noch in diesem Turbomodus? Immerhin hat er mit 32 schon seine zweite Chefdirigentenposition inne: bei der Niederländischen Philharmonie und der Nationaloper in Amsterdam.

"Ich bin ein Mensch, der sich immer weiter nach vorne pusht", sagt er und bezieht sich dabei gleichermaßen auf seine beiden Leidenschaften Musik und Sport. "Aber man muss wissen, wie weit man gehen kann." Diesen Juni musste Viotti mehrere Konzerte krankheitsbedingt absagen, im Sommer hat er daraufhin zwei Monate Pause gemacht: "Die beste Entscheidung überhaupt!"

Es sei im Musikgeschäft leider immer noch ein Tabu, Schwäche zu zeigen. Bei einem übervollen Terminplan könne es aber schnell zu einem Burnout kommen. "Bei meinem Vater habe ich es selbst erlebt. Er hat zu viel gearbeitet, zu viel dirigiert, und er ist viel zu früh gestorben. Ich habe ihn als Kind oft vermisst, weil er viel unterwegs war. Und jetzt ist er tot, und ich vermisse ihn noch immer."

Wer genau hinhört, wird bei der Mahler-Premiere also auch die Klagen eines Sohnes um seinen Vater wahrnehmen. Und wer genau hinschaut, wird beim Schlussapplaus einen stilvoll gekleideten Dirigenten sehen – der hoffentlich selig ist. (Stefan Ender, 23.9.2022)