Im Gastblog schreibt Wissenschafter Jack Gill über die Notwendigkeit einer realen europäischen Perspektive für Georgien.

Sechs Monate nachdem die Invasion Russlands in der Ukraine begann, wütet der Krieg im Osten des Landes noch immer. Doch so wie sich die schrecklichen Folgen des Krieges für die Ukraine vor Ort zeigen, hat die Aggression auch externe Folgen. Das globale Machtgleichgewicht hat sich zugunsten autoritärer Staaten verschoben. Das verstärkt den Druck auf kleinere Länder, die in die Geopolitik verwickelt sind. Ein solches Land an der Bruchlinie zwischen Russland und dem Westen ist Georgien.

Wie die Ukraine hat auch diese ehemalige Sowjetrepublik in den vergangenen Jahren einen westlichen Entwicklungsweg eingeschlagen, mit dem Ziel, sich den euro-atlantischen Strukturen der Europäischen Union und der Nato anzuschließen. Auch Georgien hat den Stachel von Russlands Militäraggression zu spüren bekommen. 2008 marschierte Russland in Georgien ein und besetzte die Gebiete Abchasien und Südossetien, nachdem Georgien Truppen nach Südossetien entsandt hatte - als Reaktion auf den Bruch des Waffenstillstands durch südossetische Separatisten. Obwohl rechtlich zu Georgien gehörend, gelten die beiden "de-facto"-Staaten Abchasien und Südossetien im Grunde als unabhängige Staaten, die jedoch nur von Russland und einer Handvoll anderer Länder, darunter Venezuela und Syrien, anerkannt werden. Sie sind wirtschaftlich fast vollständig von Russland abhängig, und Russland übt auch politische Macht über sie aus.

Ukraine und Moldau erhalten den Kandidatenstatus, Georgien jedoch nicht

Georgien gehört wie die Ukraine und die Republik Moldau zum "Assoziierten Trio", weil es 2014 ein entsprechendes Abkommen mit der EU unterzeichnete, und somit eine vertiefte und umfassende Freihandelszone und eine visafreie Reiseregelung schuf. Das Trio hatte sich gemeinsam weiterentwickelt. So war es auch ein schwerer Schlag für Georgien, als ihm am 23. Juni nicht wie der Ukraine und Moldau der EU-Kandidatenstatus angeboten wurde. Um diesen Meilenstein zu erreichen, hat die EU dem Land eine Reihe weiterer Kriterien auferlegt, die vor allem die Verbesserung des politischen und rechtlichen Systems betreffen. Zu den von der Europäischen Kommission besonders zweideutig formulierten Bedingungen gehören die "Entoligarchisierung" und die Entpolarisierung des politischen Umfelds in Georgien.Diese Bedingungen werfen einige Probleme für das Land auf.

Pro-EU Proteste brachen in Georgien als Reaktion auf die Entscheidung der Kommission aus.
Foto: Imago/Nicolo Vincenzo Malvestut/ZUMA Wire

Erstens ist der Begriff "Entoligarchisierung" eine klare Anspielung auf die inoffizielle Herrschaft des (einzigen) Oligarchen und ehemaligen Präsidenten Georgiens, Bidzina Iwanischwili. Die Kontrolle des Milliardärs über die derzeitige Regierungspartei Georgian Dream bedeutet, dass Georgien die EU-Standards für politische Rechenschaftspflicht und Korruptionsbekämpfung nicht erfüllt und die Entscheidungsprozesse inakzeptabel und undurchsichtig sind.

Die implizite Forderung der EU, Georgien solle sich entoligarchisieren, indem es "den übermäßigen Einfluss von Eigeninteressen im wirtschaftlichen, politischen und öffentlichen Leben beseitigt" - oder eben den Einfluss von Bidzina Iwanischwili -, ist in jedem Fall eine massive Unterschätzung der Herausforderung, die sich der georgischen Gesellschaft damit stellt. Iwanischwili ist der reichste Mensch Georgiens, und Georgian Dream wurde von ihm gegründet. Seine Geschäftsinteressen spielen eine enorme Rolle für die Wirtschaft und die strategische Ausrichtung Georgiens. Als er 2012/2013 an die Macht kam, öffnete Georgien wieder seine Wirtschaft für Russland. Zu verlangen, dass Georgien den übermäßigen Einfluss von Iwanischwili beseitigt, während seine eigene Partei an der Macht ist, könnte zu viel verlangt sein. Darüber hinaus deutet die Forderung nach einer Entoligarchisierung von Georgien und nicht von der Ukraine oder Moldau auf eine Doppelmoral der Europäischen Union hin.

Entpolarisierung: messbar und möglich?

Der zweite Punkt, die Entpolarisierung "durch Gewährleistung einer parteiübergreifenden Zusammenarbeit im Geiste der Vereinbarung vom 19. April", ist angesichts der politischen Spaltung in Georgien ebenfalls schwierig. Abgesehen davon, dass Erfolge dieser Maßnahme schwer zu messen sind, scheinen weder Georgian Dream noch die von Micheil Saakaschwili gegründete größte georgische Oppositionspartei, die Vereinte Nationale Bewegung (UNM), bereit, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Das von der EU vermittelte Abkommen vom 19. April 2021 sollte den politischen Stillstand in Georgien überwinden und die Abgeordneten der Opposition wieder in ihre Sitze bringen, nachdem sie sich geweigert hatten, die Ergebnisse der letzten Parlamentswahlen anzuerkennen. Die UNM lehnte das Abkommen ab, und Georgian Dream trat am 28. Juli 2021 von ihm zurück. Das Scheitern des Abkommens warf auch ein schlechtes Licht auf den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, der sich lange Zeit um eine Vermittlung bemüht hatte.

Man könnte argumentieren, dass die EU die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine und Moldau, und die daraus resultierende Enttäuschung in Georgien, nun als Mittel nutzt, um einen Wandel in der georgischen Politik herbeizuführen.

Eine verpasste Chance

Obwohl die Innenpolitik Georgien endlose Kopfschmerzen bereitet, stellt die geografische Lage des Landeseine größere Gefahr dar. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland, das derzeit 20 Prozent seines Territoriums besetzt hält und in der Ukraine - einem viel größeren Land, das einen ähnlichen Prozess der Verwestlichung durchläuft - einen grausamen Krieg führt, könnte man Georgien verzeihen, wenn es in seinen Beziehungen zur EU und zu Russland vorsichtig ist. Um den Kreml in dieser äußerst prekären Zeit nicht zu verärgern, muss die georgische Regierung besondere Maßnahmen ergreifen, auch wenn dies bedeutet, hinter verschlossenen Türen die euro-atlantische Integration zu bremsen. Anders als Finnland und Schweden kann Georgien nicht einfach an die Tür der Nato klopfen und den Beitritt erwarten. Pragmatismus ist das Gebot der Stunde, weshalb sich Georgien auch nicht den westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat.  

Trotzdem wäre die EU gut beraten gewesen, Georgien den Kandidatenstatus zu gewähren. Dies wäre ein Signal der Solidarität an die georgische Gesellschaft und hätte die Unterstützung für die westliche Integration gestärkt. Für Brüssel wäre es ein Leichtes gewesen, Tiflis grünes Licht für den Beginn eines Prozesses zu geben, der wahrscheinlich Jahrzehnte dauern wird. Die Vorteile einer Bekräftigung der pro-europäischen Haltung in Georgien wären enorm gewesen. Die Entscheidung der EU, stattdessen ohne Georgien weiterzumachen, hat den Hoffnungen der georgischen Gesellschaft auf eine europäische Integration einen Schlag versetzt, obwohl es genau jetzt an der Zeit wäre, der Bevölkerung von Georgien (wie auch der Ukraine und von Moldau) zu versichern, dass ihr Platz in Europa ist, ungeachtet der internen politischen Querelen.

Wie die meisten postsowjetischen Staaten kämpft auch Georgien mit seinem eigenen Prozess der "Verwestlichung" - der Implementierung von Menschenrechten, der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Entwicklung der Demokratie. Nachdem Georgien nur in der kurzen Zeit zwischen dem Zusammenbruch des Russischen Reiches (1917) und der Rückeroberung durch die Sowjetunion (1922) eine Demokratie hatte, versucht es seit der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991, seine europäische Identität zu bekräftigen und sich den drei oben genannten Säulen der Verwestlichung zu verschreiben.

Georgen als Insel des demokratische Fortschritts

Doch das Land bleibt in der Geopolitik gefangen: Auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres sind die Nachbarn Georgiens nicht Österreich oder Italien, sondern Russland, die Türkei und Aserbaidschan. In einem Meer von wachsendem Autoritarismus wirkt Georgien wie eine Insel des demokratischen Fortschritts. Und da die Unterstützung für die Verwestlichung in Georgien eng mit dem Narrativ verbunden ist, dass Georgien ein "europäisches" Land ist, können Gesten wie die Gewährung des Kandidatenstatus von Seiten der EU einen sehr positiven Einfluss haben.

Wenn das ultimative Ziel darin besteht, dass Georgien eines Tages der EU beitritt, dann sollten sich die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger der EU  fragen, ob dies am besten dadurch erreicht werden kann, dass unrealistische (und unfaire) Bedingungen gestellt werden, oder dadurch, dass die Georgierinnen und Georgier durch greifbare Maßnahmen wie der Gewährung des Kandidatenstatus motiviert werden, die Beitrittskriterien zu erfüllen, wodurch sie eine echte europäische Perspektive erhalten würden. (Jack Gill, 29.9.2022)

Jack Gill ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) und Affiliated Researcher am Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Östliche Partnerschaft der EU, insbesondere der Südkaukasus, sowie die Außenpolitik und Sicherheit in Mittel- und Osteuropa.

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