FPÖ-Chef Herbert Kickls (damals FP-Klubobmann) 2020 bei der AfD

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Vom Ende der Geschichte, wie es der konservative US-Politologe Francis Fukuyama 1989 prophezeite, ist die Welt dieser Tage so weit entfernt wie schon lange nicht mehr. Globale Erwärmung, Pandemie, Energiekrise, Krieg mitten in Europa – ohne Atempause wird Geschichte gemacht, im Kleinen wie im Großen.

Für Innehalten und Abwägen bleibt da oft keine Zeit: Nie zuvor erschienen die Meilensteine des Zeitgeschehens für die Menschheit so unmittelbar erlebbar, so omnipräsent rund um die Uhr abrufbar und geografisch so diffus zu verorten. Die sozialen Medien wirken dabei als Lautsprecher. Jede und jeder spürt die Auswirkungen, immer mehr Menschen blicken sorgenvoll in die Zukunft – und fragen sich, ob die Politik, wie wir sie kennen, die richtigen Antworten parat hat. Im Übermaß vorhanden: Unsicherheit und Angst.

Wir gegen sie

Eines immerhin ist sicher: Die Einteilung der Welt in Gut und Böse samt simplen Rezepten, wie Krisen zu bewältigen sind, erlebt eine ungeahnte Renaissance. Der politische Populismus, ob er von links oder, häufiger, von rechts kommt, feiert im Fahrwasser der politischen und sozialen Verwerfungen einen neuen Höhenflug – ob in Person von FPÖ-Chef Herbert Kickl, Donald Trumps US-Republikanern, der Rechts-außen-Favoritin Giorgia Meloni in Italien oder des Franzosen Jean-Luc Mélenchon, der vom linken Rand aus zum Kampf gegen das verhasste Pariser Establishment bläst. Auch wenn sie sich in den Mitteln, die sie zur Durchsetzung ihrer Weltsicht zu ergreifen versprechen, durchaus unterscheiden – sie alle eint der Impuls, es "denen da oben" einmal so richtig zeigen zu wollen. Dieses "oben", das kann im Europa des 21. Jahrhundert auch durchaus einmal die Mitte sein. "Wir gegen sie" – eine simple Formel, die, wie sich Wahl um Wahl zeigt, auf Widerhall stößt. Die beiden großen politischen Blöcke Mitte-links und Mitte-rechts, die Nachkriegs-Westeuropa über Jahrzehnte dominiert haben, verpuffen zusehends. Doch warum ist es so, dass in Zeiten der Krise die Ränder stärker und stärker werden, während die Mitte ausfranst?

Klassenkampf von rechts

Dem Demokratieforscher Wolfgang Merkel vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung bereitet die zunehmende Polarisierung der Politik Sorgen. Dass es gerade die Ränder sind, die während einer Krise profitieren, verwundert ihn aber nicht. Einerseits habe sich die Oppositionsrolle, die die politischen Ränder meist innehaben, natürlich als Vorteil erwiesen. "Die einfachen Lösungen, die die Populisten für die komplexen Krisen anbieten, füllen aber ganz offensichtlich auch eine Repräsentationslücke, die die etablierten Mitteparteien hinterlassen haben."

Den besten Nährboden für radikale Ränder sieht Merkel in der Vernachlässigung heikler Themen durch die etablierten Parteien. Vor allem beim Thema Nummer eins, der Teuerung, tun sich die Regierenden sichtlich schwer, die aufgebrachte Bevölkerung zu beruhigen – und mit den Forderungen der Ränder Schritt zu halten. Für 77 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher ist die Angst vor Verarmung laut einer aktuellen Umfrage die größte Sorge – noch vor Klima und Corona.

Während in Österreich bisher vor allem FPÖ-Chef Herbert Kickl aus der hohen Inflation Profit zu schlagen versucht und der Regierung vorwirft, mit dem Festhalten an der Sanktionspolitik gegen das kriegsführende Russland Wirtschaft und Bevölkerung zu "strangulieren", hört in Frankreich auch die Linke laut und deutlich die Signale. Seit den Protesten der sogenannten Gelbwesten Ende 2018 ist die soziale Frage dort zu einem zentralen Thema der Politik geworden – und der Präsident und ehemalige Investmentbanker Emmanuel Macron für die linken und rechten Ränder ein willkommenes Feindbild.

Während die Rechte Marine Le Pen während des Wahlkampfs zur Präsidenten- und Parlamentswahl im Frühling unablässig mit dem alten Lied von der "Überfremdung" und der "Islamisierung" Frankreichs durch die Lande zog, prangerte der Ex-Trotzkist Mélenchon geschickt den "sozialen Notstand" an: Das Rentenalter müsse gesenkt, der Mindestlohn erhöht und Grundnahrungsmittelpreise staatlich gedeckelt werden, forderte er – und wurde gehört. Mélenchon wurde zwar nicht Premierminister, Macron muss nun aber Seite an Seite mit einem Parlament regieren, in dem die Linke – aber auch die Rechte – weit stärker ist als je zuvor.

Populistischer Riecher

Dass Populismus freilich nur dann in politischen Erfolg übersetzt werden kann, wenn er Emotionen einfängt und Stimmungen richtig deutet, muss Sahra Wagenknecht, die frühere Fraktionsvorsitzende der deutschen Linkspartei, dieser Tage lernen. In einer Rede im Bundestag kritisierte sie die Sanktionen gegen Russland. Zwar sei der Krieg in der Ukraine "natürlich" ein Verbrechen, räumte Wagenknecht ein, "doch wie dumm ist die Idee, Putin zu bestrafen, indem man Millionen deutsche Familien in die Armut stürzt und Gazprom (russischer Energiekonzern, Anm.) weiter Rekordprofite macht?" Messbaren Erfolg fährt sie anders als ihr Pariser Genosse Mélenchon mit derlei Populismus nicht ein – zumindest nicht von der erwarteten Seite. Applaus erntete Wagenknecht für ihre Positionen bislang lediglich von der Rechts-außen-Partei AfD – ihre eigene Partei droht an der Russland-Frage hingegen zu zerreißen.

Überhaupt, so Demokratieforscher Merkel, profitiere die Linke derzeit eher im Globalen Süden als im Norden von den Ängsten der Bevölkerung. Chiles junger Präsident Gabriel Boric etwa wurde im Nachgang der Sozialproteste 2019 vor zwei Jahren in das höchste Amt des lateinamerikanischen Staates gewählt. Dass die von ihm unterstützte Verfassungsreform, die Chile dreißig Jahre nach dem Ende der Diktatur Augusto Pinochets ein progressives Antlitz hätte verleihen sollen, im Sommer in einem Referendum gescheitert ist, verpasste Borics linker Agenda nun aber einen Dämpfer. Gustavo Pedro, Ex-Guerillero und erster linker Präsident Kolumbiens, steht diese Art von Nagelprobe erst bevor.

"Das Volk entscheidet"

Szenenwechsel, Mitte Juni: Bei einem Gastspiel in Marbella an der spanischen Costa del Sol redete sich jene Frau vor hunderten Fans in Rage, die schon bald Europas drittgrößte Volkswirtschaft führen könnte. Giorgia Meloni, Chefin der rechtsradikalen Partei Fratelli d’Italia, spulte hier das Erfolgsrepertoire aller Populisten auf Wahlkampftour ab: Eine Unterteilung in "sie" und "wir", die Klage, die Linke schätze einen kriminellen Ausländer mehr als eine einheimische Frau. "Das Volk entscheidet. Das ist Demokratie!" Dank dieser Rhetorik gilt Meloni als aussichtsreichste Kandidatin bei den Parlamentswahlen in Italien. Die stramme Rechts-außen-Politikerin wäre die erste Frau im Palazzo Chigi, der Residenz der Ministerpräsidenten.

"Dass es eher die Rechten sind, die von der Krise profitieren, hängt vor allem mit der Schwäche der Linken zusammen", sagt Demokratieforscher Merkel. "Die bisherigen Krisen waren nicht ganz so offensichtlich Verteilungsfragen, von denen sich die Mitte-links-Parteien immer stärker zurückgezogen haben, sondern Wertekrisen, etwa was die Themen Migration, Islam oder Corona betrifft. Diese Themen waren für die Rechten besser ausbeutbar."

Auch deshalb, weil es an den politischen Rändern längst nicht mehr nur um Sachfragen gehe, in denen man als Opposition andere Wege aufzeigen müsse, sondern um das System als Ganzes. Notfalls mithilfe von Verschwörungstheorien wie etwa jener von den "amerikanischen Investmentbankern" und "linken Zirkeln", die – so Italiens womöglich künftige Regierungschefin Meloni – darüber bestimmen wollten, wer regiert.

Je unsicherer die Zeit, desto fruchtbarer der Boden, auf den derlei abstruse Erklärungen fallen. Tatsächlich ließ sich auch hierzulande in den vergangenen zwei Jahren beobachten, wie die Unsicherheit konkret in der Politik niederschlägt. Mit der Anti-Corona-Maßnahmen-Partei MFG konnte sich eine neue politische Bewegung etablieren, deren Aufkommen die Corona-Politik der FPÖ radikalisierte.

Das sorgte mächtig für Eindruck auch in der Mitte der Politik. Populismus, so scheint es, ist für manch einen Konservativen das Mittel der Wahl, um die Populisten zu schlagen. So versuchte etwa die ÖVP mehrfach, die Corona-Krise für beendet zu erklären; ob mit einem "Sommer wie damals" oder dem Versprechen, die Pandemie sei für Geimpfte vorbei. Besonders rund um die Landtagswahlen in Oberösterreich im Herbst 2020 wurden Maßnahmen herausgezögert, um keine Stimmen an die politischen Ränder zu verlieren.

Personeller Bogen

Ähnliches droht nun bei der Energiekrise: Die Regierung versucht, die aufgeheizte Stimmung durch die Verteilung von Boni und Ausgleichszahlungen zu dämpfen. Die Forderung nach einem Ende der Sanktionen sind am rechten Rand sehr laut, in der FPÖ deutlich und in der ÖVP noch etwas verschämt zu hören. Einzelne Protagonisten, etwa Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer, scheren aber bereits aus.

Anders als in Frankreich, wo das linke Urgestein Mélenchon die Angst in Stimmen ummünzen konnte, ist es in Österreich vor allem die Rechte, die Profit aus der Krise zu schlagen versucht. Die simplifizierten Versprechen: Die Wirtschaft würde bei einem Ende der Sanktionen gegen Russland so wie vorher brummen, Energiekosten wären sogar geringer. So lässt sich die Wut über die galoppierende Inflation und die Angst vor einem kalten, dunklen Winter kanalisieren: Wenn "die Regierung" nur täte, was geboten wäre, hätten wir keine Probleme.

Schritthalten mit dem Rand

Ein Rezept, das zieht. Das Thema wird dabei fast zur Nebensache. Deshalb zeigen sich die Ränder auch so flexibel: Flüchtlingskrise, Pandemie, Teuerungskrise – immer wieder tauchen da auf Demonstrationen Gruppen wie die rechtsextreme Identitäre Bewegung oder Alt-Neonazi Gottfried Küssel auf.

So wie in Österreich die FPÖ bisweilen der ÖVP den Kurs vorzugeben scheint, mühen sich die Mitte-rechts-Parteien auch anderswo ab, mit den einstigen Schmuddelkindern vom rechten Rand mitzuhalten. In Italien etwa war es Silvio Berlusconis konservative Forza Italia, die Melonis Postfaschisten salonfähig gemacht hat. Die Schwedendemokraten wissen ihre teils radikalen Forderungen ("Next Stop Kabul") legitimiert, seit der vermutlich nächste Ministerpräsident Ulf Kristersson die einstige Neonazi-Truppe zum Zweck der eigenen Macht in sein Mitte-rechts-Bündnis geholt hat. Beiden steht nun die Herkulesaufgabe bevor, ihre radikalen Wurzeln zu kappen, um sich regierungsfähig zu geben – und die Basis nicht zu verprellen.

Ein Ritual, das die FPÖ schon kennt – gute Erfahrungen mit Regierungsbeteiligungen hat sie jedoch nicht gemacht. Kein Wunder, dass so mancher Parteigrande meint, in der Opposition sei es besser: Denn auch vom Rand aus könne man das Spiel beeinflussen, ohne selbst verantwortlich sein zu müssen. (Fabian Schmid, Florian Niederndorfer, 24.9.2022)