Das Video "Seacoast" (2008) des ukrainischen Künstlers Mykola Ridnyi wirkt prophetisch: Wie Bomben schlagen Quallen an dem Strand der heute umkämpften Schwarzmeerküste ein.
Foto: Mykola Ridnyi

Kurz war sich das Publikum nicht sicher, ob die Feuerwehrautos mit Blaulicht rund um das Grazer Joanneumsviertel zur Performance von Raed Yassin gehörten oder echt waren. Wo beginnt die Kunst – und wo hört sie auf? Beim Kunstfestival Steirischer Herbst kann man sich da nie ganz sicher sein. Auflösung: Der Einsatz war tatsächlich echt. In einem der angrenzenden Museen wurde eine Rauchbildung gemeldet, gerade als die Menschenmenge zur Neuen Galerie strömen wollte. Der Brand konnte schnell gelöscht werden.

Zuvor war die Karawane einer Musikkapelle, einer monumentalen aufgeblasenen Figur sowie Performern mit Puppenköpfen gefolgt und durch die Straßen von Graz gezogen. Gestartet hatte diese Prozession, die an einen Puppenumzug während des libanesischen Bürgerkriegs in den 1980ern in Beirut erinnern sollte, am Hauptplatz.

Dort wurde die 55. Ausgabe des Festivals eröffnet, dessen Motto Ein Krieg in der Ferne prophetisch scheint: Es wurde vor dem Angriff auf die Ukraine festgelegt. Intendantin Ekaterina Degot übte in ihrer Rede abermals scharfe Kritik an Putins Krieg. Vor allem bedankte sich die gebürtige Russin bei den ukrainischen Künstlerinnen, die hier Seite an Seite mit russischen Kollegen ausstellen. Das Programm aus Performances, Ausstellungen, Diskussionen und Kabarett beschäftigt sich primär mit Kriegen und vergessenen Konflikten in Vergangenheit und Gegenwart.

Puppenumzug vom Grazer Hauptplatz bis zum Joanneumsviertel: Performance "The Theatricality of a Postponed Death" des libanesischen Künstlers Raed Yassin (2022).
Foto: Clara Wildberger
Der Blaskapelle und den Figuren folgend zog die Menschenmenge durch die Straßen.
Foto: APA / ERWIN SCHERIAU

Echte Einschusslöcher

Der Fokus liegt weniger auf Performances und mehr auf bildender Kunst, das Programm ist auch deutlich schlanker als letztes Jahr. Das Herzstück bildet eine umfassende Ausstellung in der Neuen Galerie Graz. Sogar der historische Eingang, der im Zuge der Renovierung des Joanneumsviertels geschlossen wurde, wird temporär wieder geöffnet.

Bewacht wird dieser von Werken zweier ukrainischer Künstlerinnen: Fahnen mit fantastischen Fabelwesen von Kateryna Lysovenko sowie geometrische Skulpturen, die mit Kratzern und Einschusslöchern übersät sind, von Zhanna Kadyrova. Das Material stammt tatsächlich aus der Ukraine und wurde von Kämpfen und Raketenangriffen zerstört.

Ein starkes Statement, das jedoch irreführend sein kann. Denn die Ausstellung selbst handelt weder nur von Krieg noch vom Ukraine-Krieg. Auch Kolonialismus, Klassenkonflikte oder Machtrepräsentation werden dort thematisiert.

Es geht um eine heutige Betrachtung ausgewählter historischer Werke aus der Sammlung der Neuen Galerie, die mit zeitgenössischen Positionen in Dialog treten und vergessene Kriege und Konflikte zeigen. Das passiert in dieser doch anspruchsvollen Ausstellung viel weniger offensichtlich als erwartet. Zugegebenermaßen gehen die historischen Werke – hauptsächlich figurative Gemälde und Porträts aus dem 20. Jahrhundert und sogar eine XXL-Büste von Erzherzog Johann mit Einschusswunde am Kopf – neben der starken Gegenwartskunst unter.

Abgemagerte Straßenkatze oder majestätisches Raubtier? Flaka Halitis Skulptur "Whose Bones?".
Foto: Neue Galerie Graz

Porträt von Putin

Da schleicht eine abgemagerte Raubkatze von Flaka Haliti als Metapher sozialer Unterschiede herum, dort hat Henrike Naumann ein DDR-Prepperwohnzimmer eingerichtet, und aus Löchern in den Wänden werden in der Dauerperformance von Augustas Serapinas Objekte ans Publikum gereicht, das so zum Boten wird.

Ein Highlight ist die Doku der Russin Ekaterina Muromtseva von 2019, in der ein ehemaliger Tennistrainer ein verherrlichendes Porträt von Putin malt und es ihm schenken möchte. Totalitäre Faszination oder ironischer Gag?

Subtil bleibt es aber nicht immer: In einem Film von Mykola Ridnyi klatschen Quallen auf einen Strand an der Schwarzmeerküste, dazu der Sound von Bomben. Fotos zerstörter Häuser in Sarajevo erinnern an die jüngste Vergangenheit und die Videoarbeit Volga (2015) an die Folgen: Immer mehr Geflüchtete pressen sich in ein zu kleines Auto. Niemand wird zurückgelassen.

Wettstreit der Großmächte: "Rhapsody in Yellow: A Lecture-Performance with Two Pianos" (2022) von Ming Wong.
Foto: Sebastian Reiser

Duell am Klavier

Wie eine Verlängerung dazu funktioniert die Schau Gegen den Krieg im Forum Stadtpark, wo Videos des renommierten Filmemachers Harun Farocki gezeigt werden. In der reduzierten Präsentation fokussieren Arbeiten von 1966 bis 2010 auf Kriege im weitesten Sinne. Dabei kann es um die Herstellung tödlicher Vernichtungsmittel, die heftige Kritik an der Bild-Zeitung in Westdeutschland oder den Vietnamkrieg gehen. In White Christmas von 1968 – übrigens dem Gründungsjahr des Steirischen Herbsts – fallen in Vietnam Bomben vom Himmel, während in den USA der Schnee rieselt und im Hintergrund Bing Crosby singt.

Den Eröffnungsabend schloss die musikalische Leseperformance des indonesischen Künstlers Ming Wong ab, die von der chinesisch-amerikanischen Pingpong-Diplomatie und Richard Nixons historischem Staatsbesuch bei Mao Tse-tung erzählte. Verknüpft mit Werken bedeutender Komponisten wie George Gershwin und Xian Xinghai, duellierten sich zwei Pianisten – stellvertretend für die beiden Großmächte – so lange, bis ihre Soli zu einem Duett verschmolzen. (Katharina Rustler, 23.9.2022)