Lautes Gekrächze eilt der Besuchsgruppe voraus: Noch bevor die Journalistinnen und Journalisten an den Krähen und den neuseeländischen Keas vorbeigegangen sind, wissen die Kolkraben im hintersten Teil ihrer weitläufigen Voliere, dass sich Unbekannte nähern. Besondere Skepsis ruft ein flauschiges Mikrofon hervor.
Neues behagt den flatternden Vögeln gar nicht, erklärt Thomas Bugnyar, Leiter der Forschungsstation Haidlhof bei Bad Vöslau. Er selbst darf im Gegensatz zu den Fremden eintreten. Bald schon beruhigt sich zumindest die Rabendame Nobel – erkennbar am orangefarbenen Ring um den Fuß – und lässt sich auf seinem Arm nieder. Hat der Forscher vielleicht etwas für sie dabei? Die Taschen der Regenjacke werden sogleich nach Essbarem durchforstet. Zum Vorschein kommt nur eine Packung Taschentücher.
Erst später, als Bugnyar von außen ein Tauschgeschäft mit den Raben abschließt, kommen sie auf ihre Kosten: Ein Steinchen aus der Voliere wird mit dem Schnabel hinausgegeben, im Gegenzug erhalten sie ein Hundeleckerli. Rabenvögel – fachsprachlich: Corviden – sind so clever, dass sie den kognitiven Leistungen von Menschen und anderen Primaten am nächsten kommen, schreibt Bugnyar in seinem soeben erschienenen Buch "Raben. Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten".
Lautstarke Rabenkinder
Diese beiden Eigenschaften gehen einer verbreiteten Hypothese zufolge Hand in Hand – auch bei der Evolution des Menschen. Vereinfacht gesagt: Wir konnten nur so intelligent werden, weil wir mit den Herausforderungen des komplexen Zusammenlebens zurechtkommen mussten. Obwohl Raben nur entfernt mit uns verwandt sind und ihr Gehirn anders aussieht, haben sie vermutlich eine vergleichbare Entwicklung hinter sich.
Eindrucksvoll demonstriert Bugnyar in seinem Erstlingswerk, in welchen Aspekten die Vögel uns ähnlicher sind, als wir es bisher angenommen haben. Und er räumt mit einigen Mythen auf, etwa dem geflügelten Wort "Rabenmutter": Zwar schreien Rabenküken oft lauter als andere Vogelbabys. Das liege aber nicht daran, dass ihre Eltern sie vernachlässigen, sondern an geschwisterlicher Konkurrenz. Und: Kolkraben sind die größten Rabenvögel, ausgewachsen können sie eine Flügelspannweite von 1,20 Meter erreichen. Daher haben auch die vergleichsweise großen Jungen weniger Fressfeinde zu fürchten als andere Singvögel und können sich die Aufmerksamkeit, die lautstarkes Betteln mit sich bringt, erlauben.
Auch als Todesvögel werden Raben gern bezeichnet. Selbst Kinderreime legen eine gewisse Mordlust nahe: "Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben." Als Kulturfolger fühlen sie sich in der Nähe menschlicher Siedlungen tatsächlich wohl, obgleich ihr Bestand heute relativ klein ist und sie sich eher an Ortsrändern tummeln. Immerhin schmecken ihnen Zivilisationsabfälle. Dies hat Menschen schon dazu veranlasst, Rabenvögel als Müllsammler einzusetzen. Ein wissenschaftlich begleitetes Testprojekt ist auch in Österreich in Arbeit, verrät Bugnyar – aktuell hakt es offenbar eher an der Technik als an der Kooperation der Tiere.
Die Augen der Toten
Während die Vögel einem vorbeispazierenden Menschen nie die Augen auspicken würden, ist das bei Toten ein anders gelagerter Fall: Vor allem in Zeiten, in denen in Zentraleuropa Getötete tagelang am Galgen hingen und im Krieg auf dem Feld Gefallene nicht sofort beerdigt wurden. Als Aasfresser können Raben nur schwerlich selbst große Wunden verursachen: Sind sie die ersten am Tatort, machen sie sich an Körperöffnungen – Augen und Mündern – zu schaffen. Als Augenzeuge kein schöner Anblick.
Im Gegensatz zu anderen populärwissenschaftlichen Sachbüchern über diese Vögel geht es in Bugnyars "Raben" weniger um die ökologischen Lebensbedingungen der Kolkraben. Stattdessen fasst er zusammen, was die Verhaltensforschung über sie weiß – und wie sich anekdotische Beobachtungen in kreativ ausgetüftelten Experimenten prüfen lassen. Dazu hat der Biologe selbst als weltweit renommierter Rabenforscher der Universität Wien wichtige Beiträge geleistet, vor allem am Haidlhof und bei wildlebenden Raben an der Forschungsstelle Grünau im Almtal.
Imponierende Fremdsprachen
Während die wilden Raben gemeinsam mit Wildschweinen und Wölfen speisen und per ultraleichtem GPS-Rucksack Bewegungsdaten liefern, ist es nur mit den an Menschen gewöhnten Artgenossen möglich, unter kontrollierten Bedingungen ihre Hirnfähigkeiten und sozialen Tricks zu testen. "Schon kleine Raben verstecken Essen und Objekte", sagt Bugnyar. Mit der Zeit lernen sie, sich in andere hineinzuversetzen. So können sie unter Beobachtung versteckte Schätze wieder ausgraben und an einem sicheren Ort deponieren – sofern ihre Konkurrenz nicht noch gewitzter ist.
Da hilft es, einen Partner an der Seite zu haben, der ein zusätzliches Paar Augen auf freche Nachbarn richtet. Brutpaare wie Nobel und George gehen einen "Nichtangriffspakt" ein, lernen voneinander und versuchen, sich gegenseitig zu imponieren. Beispielsweise durch neu erlernte Rufe. Die Singvögel, die eher wie "Sprechvögel" klingen, können sich nicht nur typische Laute von zugereisten schwedischen Kolkraben aneignen und so durch exotische Fremdsprachenkenntnisse punkten. Manche imitieren sogar quakende Frösche, wiehernde Pferde oder die menschliche Sprache.
Liebevolles Kraulen
Unter den etwa 24 Kolkraben, die in den Volieren am Haidlhof leben, gibt es Tiere, die den Ton angeben und solche, die sich eher leise einfügen. In der Politik der Raben suchen sich die Vögel Koalitionspartner und intrigieren gegen Kontrahenten, denen sie den sozialen Aufstieg nicht gönnen. Die Witwe Astrid fiel nach dem Tod ihres Partners Horst von der Spitze an das Ende der Rangfolge, woraufhin sie sich durch bessere Kooperation mit den Forschenden neue Freunde gemacht hat. Die freundliche Nobel ist ebenfalls bei den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern beliebt. Als einziger Vogel darf sie Thomas Bugnyar mit dem Schnabel an den Augenbrauen kraulen – ein Zeichen der Zuneigung, "bei uns wohl das Äquivalent zu einer Massage".
Das alles klingt allzu menschlich. Wie lässt sich im Forschungsalltag vermeiden, dass man den Corviden zu sehr menschenartige Attribute zuschreibt und sich von ihren Eigenarten beeinflussen lässt? "Bei wissenschaftlichen Studien passen wir extrem auf", sagt der Verhaltensforscher. Dafür werden etwa Personen in die Auswertung von Videos einbezogen, die die Raben nicht kennen und nicht wissen, worum es in einem Experiment geht.
Andererseits helfe es, die einzelnen Raben gut zu kennen, um ruhig mit ihnen arbeiten zu können. So kommt es vor, dass ein Tier vorgereiht wird, das rebelliert, wenn es nicht als Erstes die Versuchsnische betreten darf. Durch das Abwehren von Zuschreibungen, die auch zu Menschen passen, wurde schon manch eine Spezies unterschätzt. In seinem Buch begründet der Biologe zudem, weshalb den Vögeln Namen und nicht Nummern zugeteilt werden: "Diese Tiere sind Persönlichkeiten. Den Raben keinen Namen zu geben feit uns nicht davor, sie als solche wahrzunehmen."
Ansteckende Faszination
Bugnyar skizziert in "Raben" im Plauderton die Herausforderungen, vor denen er steht, wenn er den Rabenvögeln die Geheimnisse ihres Intellekts und ihres Sozialgefüges entlocken will. Er vermeidet es aber, flapsig daherzukommen, und lässt seine persönliche – und ansteckende – Faszination für Corviden durchscheinen. Zahlreiche Fotos und einige Beispiele für übliche Rabenrufe (eine Art sprachlicher Crashkurs) runden die kurzweilige Lektüre ab.
Verständlich erklärt der Experte zudem, wie Wissenschaft in seinem Fachgebiet funktioniert, und zeigt, dass Forschung Teamsache ist. So lassen sich eines Tages vielleicht auch jene Verhaltensweisen klären, bei denen es aussieht, als würden die Raben den Fachleuten zu verstehen geben: Wir beobachten euch – und sind schon einen Schritt voraus. (Julia Sica, 25.9.2022)