"Zinserhöhungen könnten die Inflation sogar verstärken", sagt Joseph Stiglitz.

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Joseph Stiglitz, Professor an der Columbia University, gilt als einer der renommiertesten Ökonomen der Gegenwart – und als lauter Kritiker zu viel Marktglaubens und ungehemmter Globalisierungstendenzen. Im Rahmen des Humanities Festival des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) hält er sich in Wien auf (siehe Info-Kasten unten). Im STANDARD-Gespräch geht es um die Themen, die Österreich und Europa derzeit am meisten bewegen: Energiekrise und Inflation.

STANDARD: Herr Stiglitz, die Europäische Zentralbank (EZB) erhöht die Leitzinsen, um die Inflation zu bekämpfen. Doch sie ist importiert: Angenommen, Putin würde Europa das Gas vollends abdrehen – dann würde wegen höherer Energiepreise die Inflation stark steigen, egal wie hoch die Leitzinsen sind. Wie soll man eine solche Inflation bekämpfen?

Stiglitz: Was die EZB bisher getan hat, ist schon fein. Die Zinsen waren außergewöhnlich niedrig – die Kosten für Kapital sind aber nicht null oder negativ. Es ist also durchaus angebracht, die Zinslage zu normalisieren. Aber Europa sollte nicht glauben, dass Zinserhöhungen mehr Gas, Öl oder Lebensmittel hervorbringen. Höhere Zinsen werden das Problem der Inflation nicht lösen. Was mich an der allgemeinen Debatte stört, ist, dass die Bedeutung von Zinserhöhungen im Kampf gegen Inflation überbetont wird.

STANDARD: Aber wie soll man die importierte Inflation bekämpfen?

Stiglitz: Die beste Methode ist, das Problem an der Wurzel zu packen, die dahinterliegenden strukturellen Probleme anzugehen. Die Energieknappheit sollte man durch den Ausbau der Erneuerbaren lösen, damit genug Energie zur Verfügung steht und die Preise sinken. Eine weitere Möglichkeit wären neue Strategien in Sachen Landwirtschaft und Ernährungssicherheit, in den USA wie Europa: Fünfzig Jahre lang haben wir den Landwirten gesagt, sie sollen weniger produzieren. Heute sollten wir sagen: Produziert! Noch ein Beispiel: In den USA gibt es in manchen Bereichen einen Arbeitskräftemangel. Was Präsident Biden dagegen tun sollte, ist die Kinderbetreuung auszubauen. Das würde es Frauen ermöglichen, einer Lohnarbeit nachzugehen – und das würde die Inflation reduzieren. Zinserhöhungen hingegen könnten die Inflation sogar verstärken.

STANDARD: Wie das?

Stiglitz: Die Inflation resultiert aus wirtschaftlichen Flaschenhälsen, etwa bei Energie, Lebensmitteln oder Arbeitskräften. Diese Flaschenhälse freizubekommen erfordert Investitionen. Höhere Zinsen machen es aber schwieriger, Geld für Investitionen aufzustellen.

STANDARD: Also war es kein Fehler, dass die EZB die Zinsen nicht schon früher erhöht hat? Viele Kritiker werfen ihr das ja vor: Die US-Fed habe bereits früher erhöht, argumentieren sie.

Stiglitz: Die EZB hat definitiv keinen Fehler gemacht. Dieses ganze Vokabular passt nicht. Die ganze Denkweise ist falsch, weil sie sich auf eine nachfrageseitige Inflation bezieht. Was wir aber erleben, ist überwiegend eine importierte Inflation, die von mangelhaftem Angebot herrührt. Wenn die EZB die Zinsen früher erhöht hätte, hätte das den Anstieg der globalen Erdöl- und Lebensmittelpreise nicht aufgehalten.

STANDARD: Ihrer These folgend müssen wir die Energieerzeugung ankurbeln, um die Inflation hinunterzubekommen. Ist die Reaktivierung von Atom- und Kohlekraftwerken angesichts dessen eine gute Idee? Letzteres schadet ja dem Klima extrem. Wie kann man generell die Herausforderungen der Klima- und der Energiekrise miteinander in Einklang bringen?

Stiglitz: Es gibt keinen großen Konflikt zwischen den beiden. Die schreckliche russische Invasion in der Ukraine hat einen positiven Aspekt: Europa und die Welt realisieren endlich, dass autoritäre Regime unzuverlässig sind wie das Wetter. Und fossile Energien werden nun einmal überwiegend von autoritären Regimen kontrolliert. Die Krise wird also einen starken Anstoß zum Ausbau von Erneuerbaren geben – und dies wiederum wird unsere Position im Kampf gegen den Klimawandel verbessern. Europa sollte jedenfalls kriegswirtschaftliche Anstrengungen setzen, um grüne Energien zu mobilisieren. Die EU sollte zum Beispiel sagen: In den kommenden sechs Monaten werden wir alles aufbieten, um so viel Erneuerbare wie möglich zu produzieren.

"Warum sollten Bürger und Unternehmen bankrottgehen müssen, weil viele Länder – darunter Deutschland und Österreich – schwere energiepolitische Fehler gemacht haben?"
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STANDARD: Stattdessen wird vor allem die Laufzeit besagter Kohle- und Atomkraftwerke verlängert.

Stiglitz: In der aktuellen Lage ist es politisch und ökonomisch unumgänglich, die Energiepreise kurzfristig so niedrig wie möglich zu halten. Deshalb brauchen wir jetzt temporär Kohle- und Nuklearenergie. Insgesamt halte ich es sogar für weniger riskant für den Planeten, schmutzige Kohle zu verbrennen als Atomkraftwerke zu betreiben. Aber beides ist schlecht, keine Frage. Potenzial sehe ich auch – auch wenn das viele Umweltschützer nicht gerne hören – im Fracking für Gas und Öl.

STANDARD: Warum?

Stiglitz: Fracking braucht keine Investitionen über 30 oder 40 Jahre. Die Produktion kann schnell hoch- und wieder heruntergefahren werden, innerhalb von drei bis fünf Jahren. Damit lassen sich die Energiepreise senken, ohne dass riesige Investitionen für fossile Energien aufgeboten werden müssen.

STANDARD: Braucht die EU eine Übergewinnsteuer?

Stiglitz: Definitiv. Warum sollten Bürger und Unternehmen bankrottgehen müssen, weil viele Länder – darunter Deutschland und Österreich – schwere energiepolitische Fehler gemacht haben? Konkret haben sie zu sehr auf russisches Gas gesetzt und die Erneuerbaren zu wenig ausgebaut. Heute sollte niemand an diesem Fehler Geld verdienen, während andere in schwere wirtschaftliche Probleme geraten. (Joseph Gepp, 26.9.2022)