Unter anderem in Luhansk folgten viele Menschen dem Aufruf zur Stimmabgabe. Wer nicht freiwillig kam, wurde auch zu Hause besucht.

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Bis Dienstag sollen die von Russland abgehaltenen Scheinwahlen in den ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson dauern. Der Ausgang steht außer Frage, denn die Abstimmung entspricht weder nach ukrainischem noch nach internationalem Recht den demokratischen Standards für freie und faire Wahlen. Schließlich können diese nur von rechtmäßigen Behörden unter Einhaltung nationaler Vorschriften und internationaler Standards wie der Anwesenheit unabhängiger Beobachter abgehalten werden, erklärt Roman Nekoliak, Projektkoordinator im Zentrum für bürgerliche Freiheiten in Kiew.

Stattdessen ziehen die Organisatoren der Scheinwahlen teilweise bewaffnet und mit Wahlboxen von Haus zu Haus, meldet der Regionalgouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj. Die ukrainische Regierung warnt ihre Bürgerinnen und Bürger in den Gebieten deshalb davor, die Tür aufzumachen.

Internationale Verurteilung

Sowohl der Europarat als auch die OSZE und westliche Staats- und Regierungschefs verurteilen das russische Vorhaben. Abgestimmt wird darüber, ob besagte Regionen der Russischen Föderation beitreten und Teil des russischen Staates werden wollen. Zuvor hatten die besetzten Teile der Oblaste Donezk und Luhansk Referenden abgehalten und sich für unabhängig von der Ukraine erklärt. Eine Erklärung, die die Einführung der russischen Währung und das Austeilen von russischen Pässen nach sich zog und nur von Russland, Nordkorea und Syrien anerkannt wird.

Nach Dienstag könnte es in den neuerdings besetzten Gebieten ähnlich weitergehen, erklärt Nekoliak: "Unmittelbar nach den Scheinreferenden wird Russland die Eingliederung dieser Gebiete in die Russische Föderation ratifizieren und dann erklären, dass jeder Versuch der Ukraine, diese Gebiete zurückzuerobern, als Angriff auf russisches Territorium gewertet wird."

Laut Maria Solkina, der Leiterin der Abteilung für regionale Sicherheits- und Konfliktstudien bei der Ilko-Kutscherow-Stiftung für demokratische Initiativen in Kiew, könne man schon allein deshalb, weil aus den besetzten Gebieten 50 bis 70 Prozent der Bewohner geflohen sind, nicht von Wahlen sprechen. Und die Abstimmungen dienten noch einem weiteren Zweck: der Erfassung von Daten. "Dadurch, dass die Russen von Tür zu Tür gehen, sehen sie natürlich, wie viele Männer es in den Gebieten noch gibt. Diese könnten dann nach der Annexion der Gebiete im Rahmen der erklärten russischen Teilmobilmachung ebenfalls einberufen werden."

Erinnerungen an Krim-Annexion

Solkina, die seit mehr als acht Jahren die gesellschaftspolitischen Auswirkungen des Kriegs in der Ostukraine und die öffentliche Meinung in den vom ukrainischen Staat kontrollierten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk erforscht, stammt selbst aus Luhansk. "In der besetzten Oblast Luhansk gibt es zwei Gruppen: jene Menschen, die seit acht Jahren unter der Kontrolle russischer Stellvertreter leben, und jene, die dies erst seit diesem Jahr tun. Seit der vor kurzem gestarteten Gegenoffensive in der Oblast Charkiw verstehen die Bewohner, dass die ukrainische Armee auch ihre Region befreien kann", so die Politologin. "Doch bei der ersten Gruppe führt dies zu Angst, weil russische Kollaborateure mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen."

Nicht zum ersten Mal führt Russland auf ukrainischem Territorium Scheinreferenden durch, die dann zur Annexion führen. Am 16. März 2014 wurde auf der Krim in einem schnell organisierten Referendum über den Anschluss an Russland entschieden. Zwei Tage später erklärte der russische Präsident Wladimir Putin den Beitritt der Halbinsel zu Russland. Weder die Ukraine noch die internationale Gemeinschaft erkennen die Rechtmäßigkeit dieses Referendums an. "Leider blieben die politischen Reaktionen damals aus, weil man im Westen dachte, dass man mit Russland verhandeln könne", so Solkina.

Doch auch die Ukraine hätte die Vorgänge damals schon härter verurteilen müssen, meint sie: "Es war ein Fehler, dass mit jenen, die mit den Russen kooperiert haben, so locker umgegangen wurde. Die meisten haben davon profitiert, denn kaum jemand wurde strafrechtlich verfolgt." Seit dem Angriffskrieg ist die ukrainische Haltung gegenüber russischen Kollaborateuren jedoch eine andere. "Jene, die in den besetzten Gebieten die Scheinreferenden mitorganisieren, Menschen zur Abstimmung zwingen und online russische Propaganda verbreiten, werden die rechtlichen Konsequenzen dafür tragen."

Angriffe gehen weiter

Am Sonntag warfen sich die Ukraine und Russland gegenseitig Angriffe vor. Das ukrainische Militär meldete dutzende Raketen- und Luftangriffe auf zivile und militärische Ziele. Die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti wiederum berichtete von ukrainischen Angriffen auf Ziele im Gebiet Cherson.

In Russland selbst gingen die Antikriegsproteste auch am Wochenende weiter. Mehr als 700 Menschen wurden festgenommen. (Daniela Prugger aus Kiew, Manuela Honsig-Erlenburg, 26.9.2022)