"Historisch" und "epochal": Das waren am Tag nach den Parlamentswahlen die am meisten verwendeten Adjektive der politischen Kommentatorinnen und Kommentatoren in Rom. In der Tat wäre es vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen, dass in Italien, das die Schrecken einer faschistischen Diktatur selbst erlebt hatte, eine Partei zur stärksten politischen Kraft gewählt werden könnte, die ihre ideologischen Wurzeln in ebendieser Diktatur hat. Insofern ist das Wahlresultat tatsächlich eine spektakuläre Zäsur für die italienische Demokratie.

Giorgia Melonis Fratelli d'Italia haben die Wahlen am Sonntag klar gewonnen.
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Die ersten Wahlanalysen zeigen allerdings: Obwohl Giorgia Melonis Fratelli d'Italia ihren Stimmenanteil gegenüber den Wahlen von 2018 versechsfachen konnten (von 4,3 auf 26 Prozent), ist das rechtsnationale und populistische Lager kaum stärker geworden: Der größte Teil des Stimmenzuwachses von Meloni erfolgte auf Kosten der Lega von Matteo Salvini; das Wasser abgegraben haben die Fratelli d'Italia aber auch dem Erz-Populisten Silvio Berlusconi und der Fünf-Sterne-Protestbewegung, die bei den letzten Wahlen mit 32 Prozent stärkste politische Kraft geworden war und damals zahlreiche Stimmen von rechts auf sich vereinigte.

Vermeintliche Hoffnungsträger

Diese Wechselwähler von der Lega, von Berlusconis Forza Italia und den Fünf Sternen haben Meloni nicht wegen, sondern trotz ihrer postfaschistischen Partei gewählt. Für die meisten Rechtswähler in Italien ist der Faschismus ein abgeschlossenes und verdrängtes Kapitel der Geschichte, ein reines Schreckgespenst der Linken, die keine besseren Argumente mehr hat. Sie wählten Meloni, weil sie frisch, unverbraucht und für viele auch ernsthaft wirkt: eine Hoffnungsträgerin für all jene Italienerinnen und Italiener, die sich abgehängt und von der Politik vergessen fühlen. Zusammengenommen sind die Stimmenverluste der letzten beiden vermeintlichen Heilsbringer, Beppe Grillo und Matteo Salvini, höher als die Zugewinne von Giorgia Meloni.

So gesehen war die Wahl vom Sonntag erneut eine Protestwahl wie jene von 2018, als die Fünf Sterne und die Lega eine Regierungsmehrheit errangen. Allerdings: Das Parlament ist am Sonntag sehr weit nach rechts gerückt – vermutlich weiter, als es die Absicht vieler Protestwähler war, die Meloni ihre Stimme gegeben haben. Im Mitte-Rechts-Lager Italiens ist die Mitte verschwunden, und Berlusconis Forza Italia und Matteo Salvinis Lega sind mit je etwas mehr als acht Prozent zu bloßen Statisten degradiert worden. Die innen- und außenpolitische Agenda Italiens wird nun die ultrarechte Nationalistin und gesellschaftspolitische Reaktionärin Meloni diktieren.

Moderates Image

Die 45-jährige Römerin Giorgia Meloni – Mutter einer sechsjährigen Tochter und liiert, aber nicht verheiratet mit dem Vater des Kindes, einem eher links stehenden TV-Journalisten – hat im Wahlkampf versucht, sich ein moderates Mäntelchen umzuhängen. Das gelang ihr meist recht gut – etwa dann, wenn sie ihre Bündnispartner Salvini und Berlusconi (erfolglos) ermahnte, keine unrealistischen Wahlversprechungen zu machen, oder wenn sie sich bezüglich der Hilfe für die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland vorbehaltlos hinter Regierungschef Draghi und die Nato stellte.

Im Mitte-rechts-Lager Italiens ist die Mitte verschwunden: Silvio Berlusconis (Mitte) Forza Italia und Matteo Salvinis (links) Lega sind durch den Wahlsieg von Giorgia Melonis (rechts) Fratelli d'Italia zu bloßen Statisten degradiert worden.
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Weniger gelungen ist ihr die Maskerade bei einem Auftritt bei der rechtsextremen spanischen Partei Vox im Juni, als sie mit geschwollenen Halsschlagadern herumschrie und Parolen gegen die "LGBT-Ideologie" und den "Todeskult der Linken" bei der Abtreibung skandierte. Eine eher schauerliche Szene – aber im Grunde zeigte sie die Giorgia Meloni, wie man sie vor dem Wahlkampf gekannt hat. Am effizientesten und authentischsten ist Meloni in der Tat immer dann, wenn sie der Linken und der EU alle möglichen Verschwörungen und Schandtaten gegen die "patria", das italienische Vaterland, andichtet.

Video:-Porträt: Wie faschistisch ist Melonis Politik?
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Undurchschaubare Verwandlungskünstlerin

Die wahrscheinlich erste Frau an der Spitze der italienischen Regierung ist aber klug genug, um zu Wissen, dass Italien ohne den Goodwill der EU nicht auskommen kann. Und so hat sie noch am Wahlabend den geschäftsführenden Premier Draghi gebeten, ihr im Hinblick auf die Ausarbeitung des Staatshaushalts im November unter die Arme zu greifen. Ob dies ein Bekenntnis zu einer seriösen Finanzpolitik oder nur ein weiterer Beschwichtigungsversuch war: Letztlich kann das niemand sagen. Die Verwandlungskünstlerin ist undurchschaubar geworden. (Dominik Straub aus Rom, 26.9.2022)