Für hochsensible Menschen ist der Rückzug aus dem Alltag besonders wichtig, um die vielen Reize zu verarbeiten.

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Im Supermarkt einkaufen gehen, mit dem Auto durch die Stadt fahren oder in einer Menschenmenge bei einem Konzert tanzen: Was für viele normaler Alltag ist, ist für andere eine Herausforderung. "Ich bin zu sensibel für die Welt", sagen sie dann, wenn sie bei Elisabeth Heller in der Praxis sitzen. Sie ist Psychotherapeutin und durch ihr erstes Kind auf das Thema Hochsensitivität aufmerksam geworden. Mittlerweile ist es zu ihrem Spezialgebiet geworden.

Hochsensible Menschen nehmen Reize intensiver wahr. Das können Gerüche und Geräusche genauso sein wie raue Stoffe auf der Haut, die schneller als kratzig empfunden werden. Dabei gehe es nicht um Überempfindlichkeit, sondern darum, dass die Reizverarbeitung bei hochsensitiven Menschen schlichtweg tiefer gehe, sagt Heller: "Wie bei einem Nudelsieb, bei dem die Löcher größer sind und durch verschiedenste Reize mehr Informationen zum Gehirn gelangen." Und auch die Verarbeitung der Reize ist intensiver, das heißt: Hochsensible Menschen machen sich mehr Gedanken über das, was sie wahrnehmen.

Hochsensibilität als Modethema

Hochsensibilität ist keine klinische Diagnose, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal – wenngleich manche Krankheitsbilder bei hochsensiblen Menschen häufiger auftreten. Die erhöhte Reizempfänglichkeit führt zu schnellerer Überlastung. Hochsensible seien daher eher von Burnout, Depressionen oder Angsterkrankungen betroffen, erklärt Heller.

Das Thema hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Immer mehr Menschen bezeichnen sich in sozialen Netzwerken als hochsensibel. In Instagram-Postings, Blogs und Podcasts schreiben und sprechen Menschen über die vielen Reize im Alltag und vom starken Wunsch, sich zurückzuziehen. "Hochsensibilität ist ein Modethema geworden", sagt Philipp Yorck Herzberg, Psychologe und Professor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Nicht alle, die sich als hochsensibel bezeichnen, seien es auch wirklich, glaubt er: "Das Label ist positiv konnotiert und vermittelt das Gefühl, etwas Besonderes zu sein."

Einerseits sei es gut, wenn Leute einen Namen haben für ein diffuses Gefühl. Vielen bringe das Erleichterung. Zum anderen sehe er das Trendthema der Psychologie kritisch: "Hochsensibilität soll kein Schutzschild sein, mit dem man sich vor allen Anforderungen des Lebens bewahren kann."

Wir haben mit einer Psychologin, einer Kunsttherapeutin und einem Psychiater sowie mit Hochsensiblen selbst über das Phänomen gesprochen
DER STANDARD

Wenig Forschung

Der Begriff Hochsensitivität geht auf die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron zurück, die seit den Neunzigerjahren zu dem Thema publiziert. Rund 20 Prozent aller Menschen verarbeiten Reize im Gehirn so komplex, dass sie die Welt intensiver erleben als andere, so ihre These. Ob das stimmt und welche Ursachen das haben könnte, ist noch nicht endgültig geklärt.

Manche Studien legen mittels Magnetresonanztomografie nahe, dass bei Hochsensiblen bestimmte Hirnareale der Reizverarbeitung stärker aktiviert werden. Aber die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen. Dass Menschen generell Reize unterschiedlich wahrnehmen und verarbeiten, ist unbestritten. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist das Thema dennoch kontrovers. "Die meiste Forschung beruht auf der Selbstbeschreibung der Personen", sagt Herzberg.

Bisher wurde Hochsensibilität kaum auf einer körperlichen Ebene untersucht. Hat Hochsensibilität einen biologischen Ursprung, oder ist es ein subjektives Gefühl? Gerade ist Herzberg an einer Forschung dazu beteiligt. "Es scheint sowohl mit der Persönlichkeit als auch mit den Sinnesorganen zu tun zu haben", sagt er. Für den Umgang mit diesem Phänomen in der Forschung ist es entscheidend, ob die Wahrnehmungsschwelle tatsächlich verändert ist, für Betroffene macht es am Ende aber keinen Unterschied – das Gefühl bleibt.

Geschenk statt Belastung

"Wichtig ist, einen guten Umgang damit zu finden", sagt Heller. Dabei stehe eine Frage im Fokus: Wie kann ich meine Bedürfnisse gut spüren und erfüllen lernen? Ein zentraler Punkt sei dabei, Grenzen setzen, lernen, Nein zu sagen und mentale Tankstellen zu finden. Oft bedeutet das Rückzug und Pausen vom Alltag: "Hochsensitiven Menschen kommt der Trend zum Homeoffice sehr entgegen", sagt die Expertin.

Die Eigenschaft birgt aber auch viel Potenzial, glaubt Heller. Hochsensible seien etwa sehr empathisch: "Das kann als Nachteil erlebt werden, kann aber auch ein Geschenk sein." Wer mehr wahrnimmt und intensiver spürt, tue das schließlich nicht nur bei negativen Dingen, betont sie: "Das ist bei positiven Reizen genauso. Hochsensible können besonders gut genießen und sich über Kleinigkeiten freuen." (Magdalena Pötsch, 26.9.2022)