Die Währungshüter von der Europäischen Zentralbank (EZB) sind in den vergangenen Monaten angesichts der hohen Inflation unter Druck geraten. Die EZB habe zu spät reagiert und die Zinsen angehoben, sagen die einen. Die Notenbank würgt mit ihren Zinsschritten das Wachstum ab, kritisieren andere. Aber wie sehen die Experten bei der EZB in Frankfurt die Entwicklungen? DER STANDARD traf den Chefökonomen der Bank, den gebürtige Iren Philip Lane, zu einem Gespräch in Frankfurt.

STANDARD: Herr Lane, in Österreich hat gerade die Herbstlohnrunde begonnen, die Metaller fordern eine Lohnerhöhung von 10,6 Prozent. Bereitet Ihnen eine solche Zahl Sorgen?

Lane: Gewerkschaften und Arbeitgeber sollten nicht ignorieren, was passiert ist. Die hohe Inflation wird ihren Niederschlag in höheren Löhnen finden müssen. Aber es braucht ein Gleichgewicht. Die Löhne werden stärker steigen als in den vergangenen Jahren. Aber der Versuch, die Arbeitnehmer durch höhere Einkommen voll und ganz vor der Inflation zu bewahren, würde die Kosten der Unternehmen deutlich in die Höhe treiben und zu Zweitrundeneffekten führen.

STANDARD: Zu welchen?

Lane: Die Unternehmen müssten ihre gestiegenen Lohnkosten in Form höherer Preise an die Konsumenten weitergeben. Dann, in einem Jahr, müssten die Gewerkschaften wieder sagen: Die Inflation ist so hoch geblieben, wir brauchen wieder eine große Lohnerhöhung! Aktuell sind viele der Lohnsteigerungen, die wir im Euroraum sehen, im Gleichgewicht und liegen im Mittelfeld. Es werden einige Versuche unternommen, damit der Lebensstandard der Arbeitnehmer nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Es wird aber auch anerkannt, dass es kontraproduktiv wäre, die Arbeitnehmer vollständig zu bewahren, indem man die Inflation in den Lohnabschlüssen eins zu eins ausgleicht. Dadurch würden bloß die sehr hohen Inflationsraten über einen längeren Zeitraum beibehalten, was wiederum eine viel größere und härtere geldpolitische Reaktion erfordern würde.

STANDARD: Das wäre eine Lohn-Preis-Spirale. Gewerkschaften wenden ein, dass Unternehmen ihre Preise auch deshalb erhöhen, weil das in einem Umfeld hoher Inflation leicht möglich ist. Unternehmen machen zusätzliche Profite. Ein Problem für die Gewerkschaften.

Lane: Dieser Kritik stimme ich voll zu. Ich würde die Unternehmen nachdrücklich davor warnen, zu erwarten, dass sie in Zeiten hoher Inflation die gleiche Rentabilität erzielen können. Für mich ist die kollektive Botschaft des Gleichgewichts wichtig. Um zu einer niedrigeren Inflation zurückzukehren, ist die Erkenntnis notwendig, dass die Rentabilität der Unternehmen eine Zeitlang sinken wird und dass die Löhne auch eine Zeitlang nicht ganz mit der Inflation Schritt halten können.

STANDARD: Gibt es Anzeichen, dass diese Erkenntnis sich durchsetzt? Sie können sich das wünschen, aber was kann die EZB tun?

Lane: Hier spielen zwei spezifische Faktoren eine Rolle. Erstens gibt es viele Anzeichen dafür, dass sich das Wirtschaftswachstum aufgrund des Kriegs und der hohen Energiepreise abschwächen wird. Viele Menschen reden von einer Rezession. Unternehmen wissen, dass sie in einem schwierigen Umfeld Marktanteile verlieren können, wenn sie die Preise zu stark anheben. Sind wiederum die Lohnabschlüsse zu hoch, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass im Fall eines Wirtschaftsabschwungs Mitarbeiter abgebaut werden. Zweitens – und das bringt uns wieder zurück zur Aufgabe der EZB – heben wir die Zinsen jetzt deutlich an. Das sollte Unternehmen und Arbeitnehmern klarmachen, dass sich die Nachfragebedingungen verschlechtern werden. Wer also die Preise weiter anhebt, riskiert Nachfrage- und Umsatzeinbußen.

STANDARD: Das bedeutet aber jedenfalls, Arbeitnehmer müssen Reallohnverluste akzeptieren. Wir werden ärmer.

Lane: Wir werden heuer etwa fünf Prozent des BIP im Euroraum für den Nettoimport von Energie ausgeben. Früher war das ungefähr ein Prozent. Das werden wir kollektiv ertragen müssen. Der Lebensstandard wird sich wegen der Energierechnungen verschlechtern. Das macht die Menschen ärmer und wird sich für viele wie eine Rezession anfühlen. Der Grund ist, dass wir in Europa einen so großen Teil unserer Energie importieren. In den USA ist das anders, dort wird viel Energie erzeugt. Es gibt also Gewinner und Verlierer von hohen Energiepreisen. Wir erwarten allerdings, dass die Inflation 2023 deutlich und 2024 weiter zurückgehen wird. Und die Löhne werden im Laufe der Zeit in gewissem Maße aufholen, sodass sich der Lebensstandard der Menschen wieder verbessern wird.


Philip Lane gehört zum sechsköpfigen Direktorium der EZB, er bestimmt die Zinspolitik mit.
Foto: Claudio De Angelis

STANDARD: Warum glauben Sie, dass die Inflation sinken wird? Eine gewagte Prognose.

Lane: Wir denken erstens, dass sich die Energiepreise im Großen und Ganzen bis Mitte nächsten Jahres stabilisieren werden, auch wenn wir nicht unbedingt einen größeren Rückgang erwarten. Zweitens waren die pandemiebedingten Engpässe, die zu Produktionsverzögerungen und Lieferproblemen geführt haben, eine der Ursachen dieser Entwicklung. Etwa in der Automobilindustrie. Hier hat sich die Situation inzwischen etwas entspannt. Auch die stark gestiegenen Transportkosten in der Schifffahrt gehen zurück. Ein dritter Faktor ist, dass Energie einen großen Anteil der Produktionskosten für Lebensmittel ausmacht. Wenn sich die Energiepreise nun stabilisieren, wirkt das auch dämpfend auf die Preisanstiege für Lebensmittel. Dazu kommt, dass unsere Zinsanhebungen die Nachfrage in der Wirtschaft bremsen werden.

STANDARD: In den vergangenen 30 Jahren stiegen die Preise langsam. Die Niedriginflationsphase könnte nun allerdings vorbei sein. Energie wird teurer. Der Kampf gegen die Klimakrise erhöht Transportkosten. Der Globalisierungseffekt nimmt ab: Auch in China steigt der Lohndruck.

Lane: Was wir im vergangenen Jahr erlebt haben, war weitgehend ein Energieschock, der zu dem plötzlichen Anstieg der Strom- und Gaspreise geführt hat. Das ist ein kurzfristiges Problem, auf das wir reagieren müssen. Gleichzeitig sehen wir im Hintergrund eine Änderung in der Dynamik einiger Kräfte, die über einen längeren Zeitraum hinweg wirken. Der niedrige Ölpreis und das Angebot aus China und anderen Schwellenländern, das zur Verringerung der Preise vor allem von Industriegütern beitrug, stellten vor der Pandemie sicher, dass die Inflation niedrig blieb. Diese Kräfte werden wahrscheinlich nicht zurückkommen, weshalb der Inflationsdruck im Vergleich zur Phase der extrem niedrigen Inflation vor der Pandemie vermutlich steigen wird. Aber auf dieses Umfeld können wir reagieren, indem wir unsere Geldpolitik anpassen. Ein höherer Inflationsdruck bedeutet also nicht unbedingt, dass es zu einer hohen Inflation kommen wird, denn dagegen können wir Maßnahmen ergreifen.

STANDARD: Dabei gibt es viele Kritiker, die der EZB vorwerfen, zu spät reagiert zu haben.

Lane: Wenn jemand behauptet, dass die EZB passiv war und nicht gehandelt hat, dann muss ich dem widersprechen. Seit letztem Dezember ist in unserer Geldpolitik viel geschehen. Hervorzuheben ist hierbei wohl vor allem, dass unsere Geldpolitik seit 2015 im Wesentlichen aus zwei Komponenten besteht. Die erste Komponente ist die Größe der EZB-Bilanz. Wir haben viele Staatsanleihen gekauft. Wir haben die Banken mit unserem Programm der gezielten längerfristigen Kredite unterstützt, um die Kreditvergabe anzuregen. Heuer bestand unsere erste Aufgabe darin, Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausweitung der Bilanz zurückzufahren. Wir hatten eine Reihenfolge und bis Juni war dies unsere erste Aufgabe. Im zweiten Schritt gilt es nun, die Zinsen zu erhöhen.

STANDARD: Wie beeinflussen die Regierungen mit ihren Ausgaben die Wirksamkeit der EZB-Geldpolitik? Viele Eurostaaten geben enorme Summen in der Inflationskrise aus.

Lane: Der Energieschock, den wir erleben, ist gewaltig. Er setzt den ärmsten Menschen in der Gesellschaft am meisten zu. Unter dem Gesichtspunkt der Fairness, aber auch aus makroökonomischer Sicht sollten die Regierungen das Einkommen und den Verbrauch derjenigen Haushalte und Unternehmen unterstützen, die am meisten darunter leiden. Es stellt sich die große Frage, ob nicht ein Teil dieser Unterstützung durch Steuererhöhungen für die Bessergestellten finanziert werden sollte. Das können höhere Steuern für Besserverdienende sein oder für Industrien und Unternehmen, die trotz des Energieschocks hochprofitabel sind. Wenn Sie Bedürftige unterstützen und dies durch höhere Steuern finanzieren, ist das weniger inflationstreibend, als wenn die Defizite ausgeweitet werden.


Lebensmittel sind im Euroraum Preistreiber geworden. Kann die EZB gegensteuern? Die Zinsen hat die Zentralbank heuer bereits auf 1,25 Prozent angehoben.
Foto: AFP

STANDARD: Die höheren Defizite sind also eine Gefahr? Die eigentlich strikten Regeln für Staatshaushalte sind in der EU bis Ende 2023 ausgesetzt.

Lane: Kurzfristig werden etwas höhere Defizite nicht vermeidbar sein, aber es braucht dafür eine klare zeitliche Begrenzung. Das ist wichtig für die Geldpolitik. Dieses Jahr ist ein Sonderfall, da sich die Ausgaben nach der Pandemie wieder normalisieren. Die Wirtschaft wurde wieder hochgefahren, und viele pandemiebedingte Unterstützungsmaßnahmen sind ausgelaufen. Daher sehen wir heuer keine großen neuen Defizite. Es geht eher darum, im nächsten Jahr sicherzustellen, dass sich die Defizite weiter verringern und nicht auf dem aktuellen Niveau verharren. Damit ist nicht ein Übergang hin zur Austeritätspolitik gemeint, sondern lediglich eine Abkehr von der Politik der fiskalischen Ausweitung.

STANDARD: Sie sagen einen Rückgang der Inflation voraus und planen Zinserhöhungen. Aber die EZB erwartet nur einen leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit. Steuert Europa auf eine Entwicklung wie in den USA zu? Die USA sind in der Rezession, aber der Arbeitsmarkt brummt.

Lane: Der Rückgang der Inflation wird größtenteils daher kommen, dass sich die Energiepreise stabilisieren und die Lieferengpässe nachlassen. Es handelt sich dabei also im Grunde um eine Verbesserung auf der Angebotsseite der Wirtschaft. Dies kann ohne einen Anstieg der Arbeitslosigkeit geschehen. Die Nachfrage wird ebenfalls zurückgehen, unter anderem infolge unserer Geldpolitik, und das wird den Arbeitsmarkt schwächen. Dabei sollten wir wahrscheinlich nicht nur auf die Arbeitslosenquote blicken. In Europa und mehr noch in den USA ist die Zahl der offenen Stellen sehr hoch, viele Betriebe suchen Arbeitskräfte. Eine Weise, auf die sich der Arbeitsmarkt abkühlen kann, ist nicht mehr Arbeitslose, sondern weniger offene Stellen.

STANDARD: Besteht dieser Zusammenhang noch, dass höhere Zinsen zu einer Abschwächung am Arbeitsmarkt führen?

Lane: Diesen Zusammenhang gibt es nach wie vor. Und wir gehen davon aus, dass die Arbeitslosigkeit zunehmen wird. Aber maßgeblich ist momentan die Angebotsseite, nicht die Nachfrageseite, auf der diesem Zusammenhang mehr Bedeutung zukommen würde. (András Szigetvari, 27.9.2022)