Im Gastblog interpretiert Psychotherapeut und Psychoanalytiker Timo Storck die sechste Folge der Prequel-Serie zu "Game of Thrones".

Die neueste Episode ist beeindruckend, denn sie führt vor, wie man in einer Serienfolge verschiedene Ereignisse auf eine Weise zeigt, die sie auf subtile Art miteinander verbindet – na gut, manchmal auch nicht so subtile Art. So lässt sich eine Szene im Lichte einer weiteren verstehen – wie Variationen eines Themas.

Da geht es zunächst einmal um Geburten. Die erste Folge der zweiten Hälfte der Staffel zeigt einige Parallelen und Querverweise zur ersten Folge der ersten Hälfte: Rhaenyra, die wir in der ersten Einstellung bei Geburtsschmerzen sehen, macht es ihrer Mutter Aemma nicht gleich, sie gebärt einen Sohn (und das zum dritten Mal) und überlebt. Später steht gar Daemon vor exakt derselben Entscheidung wie sein Bruder Viserys einst: Er muss entscheiden, ob das Leben seines Kindes oder seiner Frau Laena gerettet werden soll. Auch er macht es – so können wir vermuten – anders, als wir es zuvor gesehen haben. Allein, es nützt nichts.

Rhaenyra gebärt in der sechsten Folge einen Sohn, woraufhin sich Fragen der Vaterschaft stellen.
Foto: Sky/HBO

Wir lernen auch mehr über die Dracheneier als Krippenbeigabe. Daemons und Laenas Tochter Rhaena hält ihr Drachenei ans Feuer, es ist in den acht Jahren ihres Lebens noch nicht geschlüpft – sie hat also noch keinen eigenen Drachen, anders als ihre Zwillingsschwester Baela, und das lässt sie offenbar in der Gunst ihres Vaters sinken.

Ach, aber wo wir gerade von Daemon sprechen. Er und Laena wirken wie ein Power Couple. Sie teilen Hobbys (Easy Dragon Rider), und Daemon geht mit ihr verblüffend wertschätzend um. Umso bezeichnender, dass er nun mit ihr bereits seine zweite Ehefrau verliert – und dann auch noch eine, die er mochte! Im Zuge der Geburtskomplikationen schleppt Laena sich ins Freie und lässt sich von ihrem Drachen Vhagar dracarysieren. Sie stirbt in seinem Feuer, was eine starke Szene ist: Man kann ihre Entscheidung zum Dragozid irritierend finden, aber wie Vhagar mimisch Überraschung und dann hinzutretende Gnade darstellt, ist hohe Schauspielkunst und sollte von der Academy nicht unbeachtet bleiben!

Besitz von Drachen

Ist das Motiv, hier gemeinsam mit dem Kind, das nicht zur Welt kommen wird, in den Tod zu gehen, überzeugend für diese Figur? Oder haben wir es nicht eher mit einem "death by plot" zu tun, einem Tod, der doch sehr im Dienst der weiteren Handlungs- und Motiventwicklung stehen dürfte. Denn Daemon ist nun (zum zweiten Mal) Witwer und alleinerziehender Vater zweier Töchter. Das kann, gerade bei dem Namen, nicht gut enden. Und: Wer erbt jetzt den größten Drachen der bekannten Welt?

Apropos Drachen. Viserys und Alicent haben zwei Jungen, Aegon und Aemond (hat sonst noch jemand an "Dead" aus der Verfilmung von "Lords of Chaos" denken müssen?), und dazu eine Tochter, Helaena. Der frisch geborene Sohn von Rhaenyra hat zwei ältere Brüder, Jaecerys und Lucerys. Aegon ist der Älteste, in einer Szene sehen wir ihn, nun ja … pubertieren. Aemond hat noch keinen eigenen Drachen, wohl weil es gerade keinen Nachwuchs gibt, aber wer weiß, was noch so schlüpft. Bis dahin muss er es sich gefallen lassen, dass die anderen ihm ein Schwein ("the pink dread") als Aushilfsdrachen schenken.

Vaterschaftsfragen und Liebhaber

Natürlich ist es noch komplizierter. Denn es ist ziemlich leicht zu erkennen, dass der Vater von Rhaenyras Kindern nicht ihr Ehemann Laenor ist (… irgendwas ist da mit den Haaren). Vielmehr ist deren Vater Harwin Strong, der Kommandant der City Watch. Das ist ein einigermaßen offenes Geheimnis am Hof, das natürlich niemand benennen darf. Laenor sorgt sich zwar um Rhaenyra direkt nach der Geburt, will das Kind dann aber ohne vorangegangene Rücksprache Joffrey nennen, ist später betrunken und schwelgt in Erinnerungen an Kampf und Seefahrt.

Joffrey, das war der Name seines Liebhabers vor zehn Jahren, der am Tag seiner Hochzeit mit Rhaenyra erschlagen worden ist – von Criston Cole, der faszinierenderweise immer noch am Hof beschäftigt ist, nachdem er hochzeitscrashend immerhin den Mann erschlagen hat, der dem Ehemann der Thronfolgerin besonders wichtig gewesen ist. Na ja, gut, was macht er schon am Hof? Oh, er unterrichtet Kinder im Schwertkampf … #polizeilichesführungszeugnis.

Und das tut er, sagen wir mal, nicht frei von Emotionen. Er beschimpft Rhaenyra gegenüber Alicent als "cunt" (mit demselben Ausdruck hatte diese auch über ihre Hebamme gesprochen, es scheint sich also um vergleichbare Schmerzen zu handeln) und lässt den deutlichen älteren Aegon gegen Jacaerys, den erstgeborenen Sohn von Rhaenyra und Harwin, antreten. Auch gibt er ihm Tipps, wie man den Kampf auch mit eher unritterlichen Tricks gewinnt, was wiederum Harwin dazu bringt, Criston zu Boden zu prügeln.

Dafür muss Harwin den Hof verlassen. Eltern haften für ihre Kinder – daher möchte sein Vater Lyonel, von König Viserys hochgeschätzt, als Hand des Königs zurücktreten, denn die Rauferei hat nur noch mehr den Verdacht erhärtet, Harwin habe hier seinen Sohn verteidigt und nicht den Laenors, wie in der offiziellen Geschichte der Abstammung. Viserys akzeptiert den Rücktritt nicht, aber Lyonel und Harwin reisen vorerst nach Harrenhal ab, was ja so ein bisschen die Burg ist, in die jemand geht, der gerade nicht weiß, wohin sonst.

Der bessere "Littlefinger"

Lyonel hat nun aber gleich zwei Probleme, äh Söhne. Er ist auch Vater von Larys, der sich in der vorangegangenen Folge ja bereits für den Littlefinger-Preis für besonderes Geschick im Strippenziehen beworben hatte. Die sechste Episode zeigt uns nun, dass er der bessere Littlefinger ist. Peter Baelish war intrigant und eine Zeitlang war es faszinierend nachzuverfolgen, wie er den anderen Charakteren zwei bis acht Züge voraus war und dann oft genug das passierte, was er wollte, oder von dem wir dann eben angenommen haben, dass er genau das bezweckt hatte. Irgendwann – und das soll in "Game of Thrones" ja passiert sein – ist die Figur aber ziemlich ins Abseits geschrieben worden.

Warum ist Larys nun der bessere Littlefinger? Einfach deshalb, weil die Figur – bisher – nicht psychologisiert wird. Es wäre ja ein Leichtes, ihm noch irgendein Entwicklungstrauma, eine Geschwisterrivalität um die Gunst des Vaters oder eine Helikoptermutter anzudichten. Aber was er tut, ist viel stärker, weil er sich selbst als Marionette Alicents inszeniert.

Alicent hat ein Abendessen mit ihm. Man ist inzwischen ja auf alles gefasst: Aber sie scheinen keine Affäre miteinander zu haben, und er ist auch nicht Aegons eigentlicher Vater. Merkwürdigerweise war auch nie im Gespräch, dass er Rhaenyra heiraten könnte. Alicent teilt ihm mit, was mit Lyonel, seinem Vater, besprochen worden ist. Larys erkennt leicht, dass es Alicent ein Dorn in der Krone ist, dass Rhaenyras Kinder von Harwin stammen. Na ja, oder dass sie überhaupt Kinder hat, und dann auch noch Söhne, und dann auch noch drei. Das hatte sie sich vermutlich anders vorgestellt, als Rhaenyra einen homosexuellen Mann heiratete.

Unaussprechliche Motive und spiegelnde Figuren

Larys organisiert sich ein paar zum Tod verurteilte Gefangene und macht mit ihnen einen Deal: Er lässt ihnen die Zunge herausschneiden und bringt sie im Austausch gegen die Begnadigung dazu, in Harrenhal ein Feuer zu legen, bei dem Harwin und Lyonel umkommen. Die Zunge-Szene ist effektheischender, als es die narrativ so starke Folge eigentlich nötig hätte. Sei's drum, die manifeste Symbolik ist klar: Die Gefangenen sollen über das schweigen, was sie erledigen.

Aber vielleicht steckt dahinter noch eine weitere Bedeutung. Es geht um etwas Unaussprechliches. Klar, das ist der Patri- und Fratrizid. Der nicht psychologisierte Larys hat aber im Grunde kein wirkliches Motiv. Und hoffentlich wird ihm auch nicht noch eins angedichtet! Denn so gewinnt die Szene mit Alicent am Ende eine ungleich stärkere Wucht: Larys, der anti-Grönemeyer-esk zunächst abstrakt-bedrohliche Sätze über die Gefahr der Generativität und der Liebe vorträgt ("Was sind Kinder anderes als eine Schwäche?"), sagt Alicent, dass er doch bloß erfüllt habe, was ihr Wunsch gewesen sei, nämlich die Sache mit Lyonel und Harwin zu regeln. Alicent ist schockiert, denn, so ihr Gewissen, das habe sie ja gar nicht gewünscht. Nun, es ist eben unaussprechlich gewesen.

Larys tritt hier eben gerade nicht als Intrigant auf, der sich einen Vorteil verschafft, indem er an den Strippen zieht, die die anderen handeln lassen (auch wenn das nicht unbedingt ausgeschlossen ist). Und er ist auch nicht einfach nur ein Soziopath (auch wenn das nicht unbedingt ausgeschlossen ist). Er ist ein Spiegel. Er zeigt und tut, was Alicent erreichen will. Sie ist nämlich nicht nur die Mutter, die von ihrem Vater eingeflüstert bekommen hat, dass ihre Kinder in Gefahr sind, wenn Rhaenyra an die Macht kommt. Oder die Tochter, die von ihrem Vater zum trauernden Witwerkönig geschickt wird, um seine neue Frau zu werden. Sondern sie hat auch ein eigenes Machtstreben und eine uneingestandene Destruktivität.

So entsteht also ein großer Bogen. Wiederholt haben nun Kinder schon den Tod von Eltern verursacht. Larys lässt seinen Vater töten. Sowohl Aemma als auch Laena sterben gebärend. Und Väter kommen nicht gut weg: Harwin gefährdet sich und seinen Sohn, noch indem er ihn verteidigt. Laenor will lieber segeln gehen, als bei seinen Stiefkindern zu sein. Opa Viserys ist sowieso jenseits von gut und böse. Vater der Woche ist dann vielleicht sogar Daemon …

Ausblick

Wie geht es jetzt weiter? Wer reitet Vhagar? Welche Auswirkungen hat es eigentlich, dass Rhaenyra die Schwägerin der toten Mutter von Daemons Kindern war? Bleibt bitte, bitte, bitte Larys Strong ohne angedichtetes Entwicklungstrauma? Kann Criston Cole, von dem man ja zuerst noch gedacht hatte, er wäre der neue Jon Snow, noch unangenehmer – und langweiliger – werden? Wann gründet Aegon eine Black-Metal-Band?

Insgesamt: Kinder sind gefährlich in "House of the Dragon", es gibt Grund zum Misstrauen. Man kann nie so ganz wissen, was da schlüpft. Und man hätte nie ein Baby mit der Stimme von Thomas Gottschalk sprechen lassen sollen. (Timo Storck, 27.9.2022)