"Pistol" erzählt die Geschichte der Sex Pistols aus seiner Perspektive: Gitarrist Steve Jones, gespielt von Toby Wallace.

Foto: Miya Mizuno/FX Networks

Durchleben in "Pistol" eine Affäre: Chrissie Hynde (Sydney Chandler) und Steve Jones (Toby Wallace). Im Hintergrund: Talulah Riley als Vivienne Westwood und Thomas Brodie-Sangster als Malcolm McLaren.

Foto: Miya Mizuno/FX Networks

Die Sex Pistols auf der Bühne (von links): Louis Partridge als Sid Vicious, Anson Boon als John Lyndon und Toby Wallace als Steve Jones.

Foto: Miya Mizuno/FX Networks

Die Sex Pistols in den Startlöchern (von links): Jacob Slater als Paul Cook, Anson Boon als John Lydon, Toby Wallace als Steve Jones und Christian Lees als ursprünglicher Bassist Glen Matlock.

Foto: Miya Mizuno/FX Networks

Ein verwahrloster Lagerraum in einem Londoner Hinterhof mag den meisten als übles Loch erscheinen. Steve Jones, der junge Mann mit dem Gitarrenkoffer, der ihn betritt, findet ihn einfach "brillant". Malcolm McLaren, der den Raum für die Sex Pistols gemietet hat, hält ihn für das perfekte Versteck für "junge, sexy Attentäter". Der vor seinem gewalttätigen Stiefvater geflüchtete Jones wird in dem Refugium nicht nur wohnen, die Kunst der Power-Akkorde auf der E-Gitarre meistern und mit künftigen Punk-Heroen proben. Er durchlebt hier auch eine Affäre, dann Freundschaft mit der späteren Pretenders-Frontfrau Chrissie Hynde, bei der auch einige Gitarrentipps für ihn abfallen.

Es wäre nicht der britische Regisseur Danny Boyle, wenn er menschliche Wärme nicht auch dort finden würde, wo sie nicht so schnell erwartet wird. Das galt für die Junkie-Höhlen in "Trainspotting" ebenso wie für die indischen Slums in "Slumdog Millionaire". Und auch in "Pistol", seiner für Disney+ inszenierten Serienerzählung der Geschichte der epochalen Punk-Band The Sex Pistols, finden sich im Großbritannien der 1970er-Jahre unvermutete Enklaven, egal ob es sich um einen Hinterhof oder die Boutique Sex von Vivienne Westwood handelt.

Verspäteter Start

Ab Mittwoch ist die sechsteilige Serie nun auch hierzulande zu sehen. In englischsprachigen Ländern startete sie bereits Ende Mai und somit rechtzeitig zum 70. Thronjubiläum von Queen Elizabeth II. Genau 45 Jahre zuvor, zum "Silver Jubilee", hatten die Sex Pistols ihre berühmt-berüchtigte Single "God Save the Queen" mit einer außer Rand und Band geratenen Parodie auf die Flussprozession der Königin beworben.

Mittlerweile ist nicht nur die Queen mit großem Pomp bestattet worden, auch das Störfeuer von Lydon ist verhallt. Das smarte Schandmaul hatte über Boyles Serie im Vorfeld wenig Nettes zu sagen, was der Regisseur und erklärte Sex-Pistols-Fan umgehend als Gütesiegel für sich reklamierte. Tatsächlich greifen naheliegende Schlagwörter wie "Disneyfizierung" zu kurz. Boyle und der für seine Zusammenarbeit mit Baz Luhrmann bekannte Drehbuchautor Craig Pearce ("The Great Gatsby") haben ihre Serie an "Lonely Boy: Tales from a Sex Pistol", der recht schonungslosen Autobiografie von Band-Mitbegründer Steve Jones, ausgerichtet und so einen neuen Weg durch eine schon öfter erzählte Geschichte gefunden.

Steve & Chrissie und Sid & Nancy

Dass in der Serie manches, wie die Liebesgeschichte zwischen Jones (Toby Wallace) und Chrissie Hynde (Sydney Chandler), mit mehr als einer Handvoll Fiktion angereichert wurde, haben sowohl die Serienmacher als auch die Porträtierten in Interviews eingestanden. Gleichzeitig wurde damit ein Gegengewicht zu der schon von Alex Cox verfilmten Geschichte von "Sid und Nancy" geschaffen.

Die selbstmörderische Saga des musikalisch schwächelnden, aber umso imagestärkeren Bassisten der Band-Spätphase, Sid Vicious, und seiner Junkie-Freundin Nancy Spungen überlagert die Sex-Pistols-Saga nicht erst seit gestern. Bezeichnenderweise reduziert "Pistol" Spungen einmal nicht auf ihr Image als eine Art Band-sprengende Yoko Ono. Es ist Lydon (Anson Boon), den man in der Serie die Befürchtung äußern lässt, dass die Band mit Vicious zu einem "drittklassigen B-Movie" zu verkommen droht.

Davor müssen sich die Sex Pistols aber erst einmal für ihre so kurze wie wirkmächtige Geschichte zusammenfinden. Nach den Anfängen mit Drummer Paul Cook (Jacob Slater) und dem charismatischen Jones führt die Reise zu Vivienne Westwood (Talulah Riley) und Malcolm McLaren (Thomas Brodie-Sangster) in die Boutique Sex.

Es ist der machiavellistische McLaren, der inspiriert von den französischen Situationisten von kultureller Revolution und Gesellschaftskritik träumt und in den Sex Pistols das ideale Vehikel dafür sieht. Mittendrin bald der hochintelligente und quecksilbrige Lydon, der als Johnny Rotten wie ein lauernder Quasimodo über dem Mikrofon hängt, bereit, alles hinwegzufegen.

"The Filth and the Fury!"

Es dauert nicht lange, bis sich die Band nach einem mit verbotenen Wörtern gespickten Interview in der TV-Show von Bill Grundy auf dem Cover des "Daily Mirror" wiederfindet. Der Titel der Aufmacherstory: "The Filth and the Fury!" Die Sex Pistols werden zum Inbegriff der britischen Punk-Bewegung, in der Musik wie im Dresscode. Songs wie "Anarchy in the UK", in denen die Sex Pistols ihren Zorn über eine Klassengesellschaft, die ihnen keine Zukunft bietet, in wenigen Minuten ohne Selbstzensur raushämmern, fungieren in "Pistol" als Wegmarken. Dem vielleicht verstörendsten Sex-Pistols-Song "Bodies" ist eine eigene Episode gewidmet, die von der missbrauchten Außenseiterin Pauline erzählt.

Trailer zu "Pistol".
FX Networks

Fiktionen wurden für die mit einem frisch wirkenden Ensemble im klassischen TV-Format 4:3 gedrehte Serie stimmig mit geradezu detailversessenen Re-Enactments berühmter Band-Clips verwoben. Die berühmt-berüchtigte Flussfahrt auf der Themse fehlt ebenso wenig wie Jones' Sager im "New Musical Express": "Tatsächlich geht es uns nicht um Musik. Es geht uns ums Chaos."

Was wiederum nur die halbe Wahrheit ist. So wichtig das Do-it-yourself-Ethos für die Punk-Bewegung war, so unsinnig ist der gerne wiederholte Mythos, dass die Sex Pistols allesamt ihre Instrumente nicht beherrschten. Dass selbst bei dieser schlackenlosen Musik nichts ohne Schweiß und abgebrochene Gitarrenplektren ging, legen Szenen nahe, in denen ein manischer Steve Jones im Studio Gitarrenspur auf Gitarrenspur türmt. Das Ergebnis der Arbeit war das einzige Studioalbum der Gruppe, "Never Mind the Bollocks, Here's the Sex Pistols". Es kommt noch heute mit der Wucht einer ganzen Gitarrenfabrik daher. Auch das ist Punk. (Karl Gedlicka, 28.9.2022)