An Russlands Südflanke bebt es derzeit heftig. Die Gründe dafür sind jedoch vielmehr Waffendetonationen und wankende Allianzen, als seismische Aktivitäten. Rund 20.000 Kilometer Landgrenze trennen die Russische Föderation von ihren 14 direkten Nachbarn an Land – alleine acht davon sind aus der Zerfallsmasse der Sowjetunion wieder zu stolzen, eigenständigen Nationen erweckt worden. Aber auch die restlichen postsowjetischen Staaten gelten dem russischen Selbstverständnis nach immer noch fallweise als dessen "nahes Ausland", als russischer Hinterhof. Die Südflanke Russlands, das ist seit mindestens einem Jahrhundert Moskaus direkter Einflussbereich. Andere regionale Großmächte werden dort eigentlich nicht geduldet. Das ist jener Bereich, wo die mächtigen Herren im Kreml auch vor massiver Waffengewalt und der Aufopferung der eigenen Bevölkerung nicht zurückschrecken, um russische Interessen zu vertreten.

An Russlands Südflanke brodelt es heftig.
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Der Überfall auf die Ukraine seit 2014 mit der weiteren Eskalation im heurigen Jahr ist aktuell der stärkste Beweis dafür, der Krieg gegen Georgien, wo man mithilfe russischer Truppen seit 2008 ein Fünftel des Landes illegal besetzt hält, ein weiteres. Aber auch in der Ex-Sowjetrepublik Armenien war man in der Vergangenheit bereit, prorussische Interessen zu verteidigen. In der Vergangenheit wohlgemerkt.

Im Fall Armeniens umso eifriger, weil es sich bei dessen Widersacher Aserbaidschan um ein turksprachiges Land handelt, das von dessen Schutzmacht Türkei militärisch massiv unterstützt wird. Zudem verfolgen die Türkei und Russland etwa in Syrien gänzlich unterschiedliche Interessen. Als sich der schwelende Konflikt um die umstrittene Region Bergkarabach 2020 erneut zu einem Krieg aufschaukelte, den Aserbaidschan trotz russischer Unterstützung Armeniens letztlich gewann, blieb Russland nur die Vermittlerrolle in einem brüchigen Friedensabkommen sowie die Stationierung russischer Friedenstruppen. Mitte September 2022 krachte es fernab von Bergkarabach allerdings schon wieder zwischen den zwei Ex-Sowjetrepubliken.

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Schwindender Respekt

"Dass sich Aserbaidschan traut, nicht nur von russischen Friedenssoldaten kontrollierte Gebiete Bergkarabachs, sondern auch armenisches, völkerrechtlich völlig unumstrittenes Territorium anzugreifen, wäre nicht möglich, wenn nicht ein Großteil der russischen Truppen in der Ukraine gebunden wäre", sagt der Russland-Experte Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck zum STANDARD. Selbst wenn es wollte, könnte Moskau aktuell nicht zur Verteidigung Armeniens schreiten, sagt Mangott. Nicht zuletzt deshalb seien die erneuten aserbaidschanischen Angriffe ein Anzeichen dafür, "dass der politische Respekt vor Russland zum Teil nicht mehr existiert".

In Kiew wurden auch letzte symbolische Verbindungen mit Russland radikal gekappt.
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Die russische Nichthilfe für seinen Verbündeten Armenien untergräbt dabei nicht nur das allgemeine Vertrauen alliierter Kräfte in Moskau, es stellt auch ein russisch-dominiertes Militärbündnis ganz grundsätzlich infrage, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, kurz: OVKS. Diese sieht sich immerhin zur Beibehaltung "der territorialen Integrität der Mitgliedstaaten" verpflichtet.

Neben Russland und Armenien gehören auch Belarus, Kasachstan, Kirgisistan sowie Tadschikistan dem Bündnis – in dem auch Afghanistan und Serbien einen Beobachterstatus haben – an. Aserbaidschan ist nicht mehr dabei, weshalb die armenische Regierung auch die OVKS anrief und an die Beistandspflicht appellierte – immerhin verfügt die Organisation ähnlich dem berühmten Artikel 5 der Nato über einen Passus, der einen Angriff auf einen als Angriff auf alle Mitglieder wertet.

Video: In Moskau und Sankt Petersburg demonstrierten Menschen gegen die von Wladimir Putin angekündigte Teilmobilisierung im Krieg gegen die Ukraine
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Zwar ist in keinem Bündnisvertrag expliziert verankert, dass eine Reaktion immer auch eine militärische Antwort bedingt, betont Mangott, "das Selbstverständnis der Organisation war und ist es aber jedenfalls, dass bei einem Angriff auf einen Mitgliedsstaat eine militärische Reaktion erfolgen muss", so der Experte. Geschieht dies nicht, "untergräbt das natürlich das Vertrauen und den Glauben an die Sinnhaftigkeit dieses militärischen Bündnisses", sagt Mangott.

Auch in Lettland entledigte man sich zuletzt sowjetischer Symbole.
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Tatsächlich wurden die schnellen Eingreiftruppen der OVKS in der Vergangenheit nur äußerst selten aktiv. Im Jänner halfen sie dem kasachischen Machthaber und Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew aber, die Massenproteste gegen sein Regime gewaltsam niederzuschlagen. Offiziell war die Rede von "kriminellen westlichen Kräften", die im postsowjetischen Raum angeblich wieder einmal eine Farbrevolution anzetteln würden. Berichte, wonach "russische Lastwagen, die sanktionierte Güter über kasachisches Territorium nach Russland bringen sollten, aber ausgerechnet in Kasachstan aufgehalten und festgesetzt wurden", zeigen ebenfalls den Respektverlust Russlands Alliierter, glaubt Mangott. Tokajew gelte in Moskau mittlerweile als Verräter.

Hausgemachte Probleme

Bleibt die Frage, wie viel Sicherheit diese Organisation in einem Raum kollektiver Unsicherheit noch bieten kann? Fernab der russischen Grenze, laut russischer Ansicht aber immer noch in dessen Einflussgebiet, kracht es im tadschikisch-kirgisischen Grenzbereich seit September mindestens ähnlich heftig wie im Südkaukasus. Russische Medien sprachen schnell von "Grenzscharmützeln" verarmter Sowjetrepubliken, wie sie nun einmal immer wieder vorkommen würden.

Der Politikwissenschafter Emil Joroew betonte auf Twitter jedoch, dass es einen enormen Unterschied mache, ob es lediglich um "Grenzstreitigkeiten" oder "unverblümte Invasionen handelt, die großflächig und willkürliche zivile Opfer" in Kauf nehmen würden. Tatsächlich soll etwa die 10.000 Einwohner zählende kirgisische Stadt Batken, die mehr als zehn Kilometer von der noch immer nicht endgültig markierten und umstrittenen Grenze liegt, beschossen wurden sein. Die OVKS kann aktuell also nicht einmal die territoriale Integrität seiner Mitgliedsstaaten untereinander wahren, geschweige denn sie gegen Angriffe von außen verteidigen.

Nicht nur Grenzstreitigkeiten zwischen Tadschikistan und Kirgistan.
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Dabei sind viele der russischen Probleme an der südlichen Flanke des Staatsgebiets sozusagen "hausgemacht". Auch Mangott bezeichnet viele Grenzkonflikte als ein "sowjetisches Erbe". Die sogenannte Territorialisierung der Nationalitäten wurde 1924 auch schon von einer Grenzkommission im heutigen Konflikthotspot Ferghanatal zwischen Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan versucht. Die Grenzen der damaligen Sowjetrepubliken waren allerdings nur grob entlang ethnischer Zusammensetzung der Teilrepubliken ausgerichtet – der nationale Unabhängigkeitsgedanke innerhalb des Mutterstaates Sowjetunion sollte schließlich nicht überhandnehmen. Auch deshalb wurden ethnische Minderheiten mitunter bewusst in anderen Sowjetrepubliken angesiedelt, oder sie bekamen gewisse Autonomierechte zugesprochen.

Abnabelung?

Ebenfalls galt es, ökonomische und soziale Überlegungen mit der Grenzziehung zu respektieren. Das führte dazu, dass viele Grenzen heute noch "einfach nicht nachvollziehbar" sind und nicht "entlang irgendwelcher natürlicher Barrieren oder der ethnischen Zusammensetzung" aufgebaut sind, sagt Mangott. Damals in der Sowjetunion war das alles kein Problem, solange es eben alles nur weiche Grenzen innerhalb eines großen Landes waren, die jederzeit problemlos überquert werden konnten. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion sollte der ethnische Nationalismus dann aber ein Revival feiern, sodass die Grenzen im postsowjetischen Raum immer wieder infrage gestellt werden.

Nähern sich Kasachstan und die restlichen zentralasiatischen Staaten vermehrt China an?
Foto: Kasach Presidential Office / Handout

Grundsätzlich wird Russland kurz- bis mittelfristig weder willens noch fähig sein, sich dieser Unruheherde anzunehmen. In Kombination mit der militärischen Verwundbarkeit Russlands, die die Ukraine seit ihrer beeindruckenden Gegenoffensive aufzeigt, ist es letztlich gar möglich, dass eine selbstbewusstere Abnabelung der postsowjetischen Staaten gegenüber Russland stattfindet. Tatiana Zhurzhenko vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien merkt an, dass die neue Generation von Politikern in den Ex-Sowjetrepubliken politisch wie kulturell nicht mehr in der Sowjetunion sozialisiert wurde. "Viele Politiker, vor allem aber ein großer Teil der Bevölkerung in diesen Staaten wollen nicht mehr so abhängig sein von Russland."

Moldau nähert sich immer intensiver der EU an, die Ukraine nach einem etwaigen Kriegsende vermutlich auch. Zentralasiatische Staaten könnten sich vermehrt der wirklichen Regionalmacht China zuwenden. Und im südkaukasischen Georgien scherzte kürzlich Irakli Kobachidse, Generalsekretär der regierenden Partei Georgischer Traum, dass es womöglich an der Zeit sei, die Bevölkerung zu fragen, ob Georgien eine zweite Front zu Russland eröffnen soll, indem man mit einer Rückeroberung Abchasiens und Südossetiens beginnt. (Fabian Sommavilla, 29.9.2022)