Die bisher umfangreichste Studie über Strukturen im öffentlichen Sport, die Missbrauch begünstigen, offenbarte keine schönen Zustände.

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"Die sexuelle Beziehung zu meinem neun Jahre älteren Turntrainer fing ganz langsam an." So erinnert sich die heute erwachsene Tina an ihre Zeit als Jugendliche in einem deutschen Turnverein. Streng sei der Mann gewesen, aber auch "der coole Freund". Man diskutierte, wer im Verein den "schönsten Busen" habe, die Mädchen saßen bei ihm am Schoß, auch das Duschen erfolgte gemeinsam.

"Im Alter von 14 Jahren hatte ich (…) mein erstes Mal mit ihm", so Tina. Es folgte eine sexuelle Beziehung, bis sie 17 Jahre alt war. Exklusiv war diese nicht, der Mann hatte Sex mit mehreren jungen Turnerinnen. "Es entstand ein Konkurrenzverhältnis unter uns Mädchen, denn jede wollte dem Trainer am nächsten sein und in seiner Gunst möglichst weit oben stehen", beschreibt Tina diese Zeit.

Dass es sich um Missbrauch handelte, war ihr damals nicht klar. Erst später, mit 20 Jahren, begriff Tina und zeigte den Mann an – gemeinsam mit elf anderen geschädigten Mädchen. Zwar sehe sie sich heute "als stark und selbstbewusst". Aber sie habe auch eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Bindungsstörung und Panikattacken.

72 Betroffene

Tina ist eine von 72 Betroffenen und Zeitzeuginnen, die die von der deutschen Regierung eingesetzte Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs befragt hat – für die bisher umfangreichste Studie über Strukturen im öffentlichen Sport, die Missbrauch begünstigen. Am Dienstag ist die Untersuchung in Berlin präsentiert worden, sie offenbart keine schönen Zustände. "Wir haben jetzt einen Blick auf die dunkle Seite des Sports", sagt Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission. Deutlich wurde bei den Befragungen, dass die Betroffenen den Missbrauch überwiegend im Leistungssport und wettkampforientierten Breitensport, seltener im Freizeitsport und Schulsport erleben.

"Die Ergebnisse sind erschütternd", sagt Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln. Sie ist die leitende Autorin der Studie. Oft seien vom Missbrauch Kinder betroffen, die ohnehin aus schwierigen familiären Verhältnissen stammen und im Verein eigentlich Halt suchten. Laut Rulofs' Untersuchung sind drei Viertel der Opfer weiblich, "schwere körperliche Übergriffe und Vergewaltigung" kämen "in den meisten Fällen mehrfach und über längere Zeiträume vor". Betroffen seien vor allem Kinder in Turn- und Fußballvereinen, diese haben in Deutschland die meisten Mitglieder. Doch die Möglichkeit für Missbrauch ergebe sich – vor allem für Trainer – auch bei Sportarten, die eher exklusiv und rar seien, beim Eissport oder beim Reiten, weil sich das Geschehen auf wenige, oft uneinnehmbare Orte reduziere.

Unverständnis, Bagatellisierung und Ignoranz

Die Autorinnen und Autoren der Studie haben untersucht, warum sich Betroffene so schwer tun, über das Geschehene zu sprechen. Rulofs: "Viele haben gesagt, sie hätten nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollen." Doch es mangelt nicht nur an Vertrauenspersonen. Die Betroffenen stoßen oft in den Vereinen auf Unverständnis, auf "Ablehnung, Bagatellisierung und Ignoranz". Denn, so Rulofs: "Ihre Berichte brechen die positive Erzählung des Sports." Und diese lautet: Wer Sport macht, ist in Gemeinschaft und kann Erfolge erzielen. Die Wissenschafterin berichtet von "schweren, immer wiederkehrenden Schamgefühlen". Viele Betroffene würden sich mitschuldig fühlen, weil sie durch den Missbrauch "in privilegierte Positionen kamen", etwa ins Auswahlteam aufgenommen wurden oder auch finanzielle Zuwendungen erhielten. Letztendlich aber teile der Missbrauch das Leben "in ein unbeschwertes Davor und in schwerwiegende Belastungen danach".

Rulofs: "Wir haben in Deutschland sieben Millionen Kinder in 90.000 Sportvereinen. Die Verantwortung der Organisatoren ist entsprechend groß." Ihre Forderung: "Es braucht eine gläserne Sporthalle, in die jederzeit von außen Einblicke möglich sind." Kommissionsmitglied Keupp betont: "Sportorganisationen müssen ein Interesse daran haben, zu erfahren, was in ihrer Einrichtung in der Vergangenheit geschehen ist, auch um Kinder und Jugendliche besser schützen zu können. Darum braucht es ein gesetzlich verankertes Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung, das gleichzeitig Institutionen dazu verpflichtet."

Und für Angela Marquart, die in der DDR selbst Opfer sexualisierter Gewalt (durch ihren Stiefvater) war und die heute im Betroffenenbeirat der Kommission sitzt, ist klar: "Am Geld darf es nicht scheitern. Davon ist im Sport genug da." (Birgit Baumann aus Berlin, 28.9.2022)