Die angeblich älteste Bierprobe Deutschlands wurde für Forschungszwecke geöffnet.
Foto: Privatbrauerei Barre

Schon vor mehr als 10.000 Jahren dürften Menschen bierartige Getränke gebraut haben, wie die Archäologie zeigt. Auch zu einer eisenzeitlichen Jause in Hallstatt dürfte es gehört haben. Werden Bestandteile des Durstlöschers in Gefäßen nachgewiesen, sind jedoch nur noch geringe Mengen übrig. Doch greifen experimentelle Wissenschafter und Wissenschafterinnen wie Laura Dietrich vom Deutschen Archäologischen Institut Berlin auch selbst zu Getreide und steinzeitlich inspirierten Mahlsteinen aus Basalt, um herauszufinden, was die Menschen damals schmeckten.

Ein weitaus jüngeres Studienobjekt nahm sich ein Forschungsteam der Technischen Universität München vor. Es musste auch gar nicht erst nachgebraut werden, sondern ließ sich direkt konsumieren: Ein beinahe 140 Jahre altes Bier, 1885 abgefüllt, steht im Zentrum einer Studie, die im Fachjournal "Scientific Reports" veröffentlicht wurde. Die verschlossene Flasche wurde in einem Geschäftsgebäude in Norddeutschland bei Aufräumarbeiten gefunden. Sie stammt aus der Privatbrauerei Barre in Nordrhein-Westfalen.

Elegante Aromen

Das Forschungsteam, dem die Flasche in die Hände fiel, witterte offenbar eine besondere Verkostung, die sich mit geschichtswissenschaftlich-chemischem Erkenntnisgewinn kombinieren ließ. Die Gruppenmitglieder konnten damit ein Getränk aus einer Zeit charakterisieren, als industrielles Bierbrauen gerade begann. Und als längst noch kein Mindesthaltbarkeitsdatum vermerkt wurde.

So öffneten sie die mit Korken, Draht und Wachs versiegelte Flasche, die durchgängig bei Raumtemperatur gelagert wurde. Der erste Eindruck war bereits positiv: "Insgesamt ist es ein sehr schlankes, elegantes, harmonisches Bier, das immer noch ganz hervorragend riecht und schmeckt", sagt Martin Zarnkow, Leiter des Bereichs Forschung und Entwicklung im Forschungszentrum Weihenstephan für Brau- und Lebensmittelqualität, das zur TU München gehört.

Auch Aromen von Sherry, Port und Pflaumen schmeckten die Forschenden heraus. Ihnen ging es aber nicht nur um den Geschmack: Sie analysierten auch das molekulare Profil des Bieres am Lehrstuhl für Analytische Lebensmittelchemie. Die Untersuchung ergab, dass die Signatur des historischen Bieres, abgesehen von einer starken Oxidation der Hopfenbestandteile, mit modernen, industriell gebrauten Bieren vergleichbar ist.

Fortschritt der Brautechnik

Nach einem Vergleich der chemischen Signatur mit der von 400 modernen, nationalen und internationalen Bieren ordneten die Forschenden die Probe als typisches helles Lagerbier ein. Durch den Abgleich sei "eine Datenbank entstanden, die es nun ermöglicht, die Technologie hinter einem Produkt zu verstehen. Etwas, was wir schon lange machen, aber bisher nicht auf so statistisch solide Basis stellen konnten", sagt Zarnkow.

Die Untersuchung des historischen Bieres ermöglicht ihm, seiner Kollegin und seinen Kollegen Rückschlüsse auf die Brauweise der damaligen Zeit. Sie fanden etwa durch mikrobiologische Analysen heraus, dass das Bier in einem untergärigen Verfahren gebraut und später gefiltert wurde. Dies war möglich, weil in den 1870er-Jahren ein Kühlapparat von Linde erfunden wurde, der den Prozess ganzjährig durchführen ließ – er erfordert nämlich eine Idealtemperatur von wenigen Grad Celsius. Auch war nur wenige Jahre zuvor der erste Filtrationsapparat erfunden worden.

Reinheitsgebot im Nordwesten

Eine weitere interessante Entdeckung: Das Bier war nach dem Reinheitsgebot gebraut worden – obwohl das damals in dieser Region in Nordrhein-Westfalen nicht vorgeschrieben war. Das Reinheitsgebot stammt aus Bayern, 1516 wurde es in Ingolstadt als Landesordnung erlassen. Es schrieb vor, dass Bier nur aus Wasser, Malz und Hopfen bestehen darf, später kam noch Hefe als Zutat hinzu.

Das historische Flaschenbier entsprach "komplett den damals veröffentlichten Charakteristika – von der Farbe mal abgesehen", sagt Brauforscher Zarnkow. Die Forschungsgruppe konnte so zeigen, dass sich selbst mehr als 100 Jahre nach der Abfüllung das molekulare Profil von Bier enthüllen lässt. So detailreich sind die Ergebnisse steinzeitlicher Bierarchäologie zwar nicht – doch angesichts des Alters dürften Forschende, die sich mit vor Tausenden Jahren gekochten Getreidespuren befassen, nur müde schmunzeln. (sic, APA, 29.9.2022)