Vom Politikum zum Totalschaden: In Deutschland geht die Bundesregierung Medienberichten zufolge davon aus, dass die bisher so wichtige Gaspipeline Nord Stream 1, durch die bis Anfang September von Russland aus Gas durch die Ostsee nach Deutschland gepumpt wurde, seit den Explosionen vom Wochenbeginn irreparabel zerstört ist. Dass es sich bei den Lecks – insgesamt sind drei der vier Röhren von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 beschädigt – nicht etwa um einen Unfall handelt, sondern um das Werk von Saboteuren, stand für die meisten Regierungen am Mittwochnachmittag fest, auch für den Kreml. Offen ist, wer dahinterstecken könnte. DER STANDARD hat einige der wichtigsten Fragen beantwortet:

Frage: Wer hat ein Interesse an der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines?

Antwort: Für Johannes Peters, Experte für Maritime Strategie und Sicherheit am Institut für Sicherheitspolitik an der norddeutschen Universität Kiel (ISPK), führt die Spur nur in eine Richtung: ostwärts. "Wenn man sich die staatlichen Akteure im Ostseeraum ansieht, fällt einem nur einer ein, der sowohl Interesse als auch Möglichkeiten hat, die Pipelines zu zerstören, und das ist Russland", sagte er dem STANDARD. Beweise dafür hat er freilich nicht. Moskau, sagt Peters, wolle ein diffuses Bedrohungsgefühl erzeugen und so den Druck auf Deutschland erhöhen, was die Sanktionen gegen den Nord-Stream-Miteigentümer Gazprom betrifft. "Es geht aber auch um das sogenannte Messaging, also darum, Geheimdienstkreisen und Militärs zu zeigen: Wir sind in der Lage, solche Sabotageaktionen durchzuführen."

Indem man eine der beiden Nord-Stream-2-Röhren unbeschädigt ließ, sei Russland nun in der komfortablen Situation, gegenüber der im Winter womöglich unter Druck geratenen deutschen Regierung den Willen zu bekunden, Gas zu liefern – wenn Berlin aus den Sanktionen gegen Gazprom aussteigt und Nord Stream 2 doch noch für den kommerziellen Betrieb zertifiziert.

Dass nicht etwa Russland, sondern die USA hinter den Anschlägen stecken, wie es etwa der ehemalige polnische Außenminister Radoslaw Sikorski am Mittwoch auf Twitter verbreitete, will Peters in das Reich der Verschwörungstheorien verbannt wissen: "Dass die USA Energieinfrastruktur ihrer europäischen Partner angreifen, halte ich für undenkbar."

Der Kreml jedenfalls wies am Mittwoch alle Vorwürfe in Richtung Russlands als "dumm" zurück, schloss Sabotage aber ebenfalls nicht aus und rief zu einer umfassenden Untersuchung auf. Sowohl Russland als auch europäische Länder haben Milliarden in den Bau der Pipelines investiert. Eine absichtliche Beschädigung der europäischen Energieinfrastruktur rufe eine "robuste und gemeinsame Reaktion" auf den Plan, erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Frage: Was genau ist eigentlich passiert?

Antwort: Am Montag berichtete der Betreiber von Nord Stream 2 erstmals von einem plötzlichen Druckverlust in der Nacht und von einem möglichen Leck in der unterseeischen Leitung. Die dänische Energiebehörde bestätigte wenig später, dass in einer der beiden Röhren "sehr wahrscheinlich" ein Leck aufgetreten sei. Am Dienstag warnten schließlich schwedische Behörden vor zwei Lecks in den Röhren von Nord Stream 1, der älteren der beiden Pipelinesysteme, die von Russland nach Deutschland führen. Am Mittwoch begannen die Spekulationen über die Ursache der Lecks – und auf der Meeresoberfläche nahe der dänischen Insel Bornholm zeugten riesige Blasenteppiche von aufsteigendem Gas.

Frage: Schweden und Dänemark sprechen von "massiven unterseeischen Explosionen" im Bereich der Pipelines. Wie könnten diese entstanden sein?

Antwort: Kurz gesagt: Nichts Genaues weiß man nicht. Forscher Peters drückt die Unsicherheit etwas eleganter aus: "Das ist bisher noch komplett im Bereich der Spekulation." Einzig: Den Tatorten entsprechend, die sich in etwa 50 bis 60 Meter unter der Oberfläche der Ostsee bei Bornholm befinden, ergeben sich einige mögliche Methoden, wie die Sprengsätze an den Röhren angebracht worden sein könnten. Die Gewässer an der Seegrenze zwischen Dänemark und Schweden sind einerseits seicht genug, um Spezialtauchern Handlungsspielraum zu lassen, andererseits tief genug, um einen U-Boot-Einsatz denkbar zu machen. Neben den Militärs Dänemarks und Schwedens beteiligt sich nun auch die deutsche Marine an den Bemühungen zur Aufklärung der Sabotageakte.

Frage: Wie sind die so wichtigen Rohre unter dem Meer eigentlich geschützt?

Antwort: So gut wie gar nicht. Nord Stream 1 etwa verläuft vom russischen Wyborg ins ostdeutsche Lubmin auf einer Länge von 1.200 Kilometern meist unterseeisch. Zwar seien die Wände der insgesamt 100.000, je zwölf Meter langen Rohrstücke aus etwa drei Zentimeter dickem Stahl und einer – je nach Untergrund – sechs bis zehn Zentimeter messenden Betonhülle durchaus widerstandsfähig konstruiert, darüber hinaus lasse sich die Pipeline auf dem Meeresgrund aber kaum schützen, sagt Peters: "Die unterseeische Infrastruktur, gleich ob Datenkabel oder Gaspipelines, wird meist von privaten Unternehmen betrieben, die Staaten haben relativ wenig Zugriff darauf."

Vom Hafen von Rønne auf Bornholm aus sucht die dänische Marine nach Ursachen für die Lecks.
Foto: EPA/HANNIBAL HANSCHKE

Außerdem, so Peters, seien die so wichtigen Rohre und Kabel schon aufgrund ihrer schieren Länge eigentlich nicht zu überwachen. "Ein Staat könnte, selbst wenn er es will, solch einen Schutz ohnehin nur in seinen eigenen Hoheitsgewässern zwölf Seemeilen vor der Küste gewährleisten."

Frage: Seit September fließt aus Nord Stream 1 bekanntlich kein Gas mehr, Nord Stream 2 ging erst gar nicht in kommerziellen Betrieb. Warum waren die Leitungen trotzdem voll?

Antwort: Die Pipelines müssen immer unter leichtem Druck stehen, damit sie betriebsbereit bleiben. Dazu teilte die Nord Stream 2 AG im vergangenen Oktober mit, der erste Strang der Nord-Stream-2-Pipeline sei nun mit 177 Millionen Kubikmeter "technischem Gas" – sehr wahrscheinlich handelt es sich dabei um Methan – gefüllt. Dieses sorge für einen Druck von etwa 103 Bar in den Rohren. Dieser Druck reiche aus, um den Gastransport zu einem späteren Zeitpunkt zu starten, erklärten die Betreiber.

Frage: Fast zeitgleich mit den offenkundigen Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines wurde unweit des Tatorts eine neue Pipeline eröffnet, "Baltic Pipe", durch die Gas aus Norwegen nach Polen strömen soll. Ist das Zufall?

Antwort: "Ein Schelm, wer Böses denkt", sagt Peters sarkastisch. "Wenn ich davon ausgehe, dass mit der Zerstörung der Nord-Stream-Röhren ein starkes Signal ausgesandt werden sollte, ist der Zeitpunkt jedenfalls nahezu ideal." Die Attentäter hätten erfolgreich demonstriert, dass sie zu Angriffen auf Pipeline-Infrastruktur in unmittelbarer geografischer Nähe zur Baltic Pipe fähig sind. Der Umstand, dass sich Polen damit von russischem Einfluss im Energiesektor emanzipieren will, spricht dem Kieler Wissenschafter zufolge ebenfalls für eine russische Täterschaft.

DER STANDARD | AFP | DANISH DEFENCE COMMAND

Frage: Was bedeuten die Schäden für die beteiligten Unternehmen – und was für die Erdgasversorgung?

Antwort: Zuerst zur OMV: Sie hatte die neue Nord Stream 2 mit 729 Millionen Euro mitfinanziert. Doch bereits im März 2022 entschied sie sich, keine weiteren Investitionen in Russland zu tätigen, und führte eine Wertanpassung durch. Inklusive Zinsen verlor die OMV mit ihrer Beteiligung an der umstrittenen Pipeline eine Milliarde Euro. Mit den jetzt erzeugten Lecks entstehen wegen des früheren Ausstiegs keine zusätzlichen Schäden für die OMV. Auch für die anderen weiterhin beteiligten Unternehmen entsteht zunächst kein Schaden, da zuletzt kein Erdgas mehr durch die Pipelines geliefert wurde. Allerdings bedeuten die Lecks, dass wohl auch in näherer Zukunft kein Gas durch das Nord-Stream-System geliefert werden wird.

Frage: Was bedeuten die Lecks für das Klima?

Antwort: Aus den drei kaputten Rohren treten enorme Mengen von Methan aus – ein besonders potentes Treibhausgas. Der Weltklimarat rechnet, dass Methan die Erde über eine Zeitspanne von zwanzig Jahren 80-mal stärker erhitzt als CO2. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) schätzt, dass im schlimmsten Fall aus den Nord-Stream-Pipelines umgerechnet 28,5 Millionen Tonnen sogenannte CO2-Äquivalente austreten. Zum Vergleich: Österreich stieß im Jahr 2020 knapp 74 Millionen Tonnen an CO2-Äquivalenten aus. Angesichts dieser Maßstäbe spricht Constantin Zerger von der DUH deshalb von einem "Superemitter-Event". Das verbleibende Gas müsse so schnell wie möglich abgepumpt werden.

Es bestehen allerdings noch eine Reihe an Ungewissheiten: etwa welche Temperatur das Gas in der Pipeline hat, wie schnell es austritt und welche Mengen an Methan von Mikroben im Wasser absorbiert werden können, bevor es an die Oberfläche gelangt. "Das Potenzial für ein massives und höchst schädliches Emissionsereignis ist äußerst besorgniserregend", sagte der Atmosphärenchemiker David McCabe von der Organisation Clean Air Task Force dem TV-Sender Euronews.

Riesiger Blasenteppich auf der Ostsee.
Foto: DANISH DEFENCE / AFP

Frage: Und für die Umwelt?

Antwort: Für die Meeresumwelt in der Ostsee dürfte keine "erhebliche Gefahr" bestehen, wie eine Sprecherin des deutschen Bundesumweltministeriums der ARD-"Tagesschau.de" sagte. Denn reines Methan, das sich teilweise auch im Wasser löst, ist ungiftig. Allerdings ist noch nicht klar, ob es sich bei dem Gas nicht um ein Gemisch handelt, welches dann sehr wohl zu unbekannten Schäden führen könnte, wie Nadja Ziebarth von der Umweltorganisation Bund für Umwelt und Naturschutz (Bund) warnte. Wie hoch das Risiko wohl ist, betonten auch die dänischen Behörden. Sie richteten eine großflächige Sperrzone für die Schifffahrt ein: Denn Methan ist extrem brennbar.

Vor allem ist aber nun die Sorge groß, dass es zu weiteren Sabotageakten kommen könnte, wenn auch die genaue Ursache für die Lecks noch nicht klar ist. Die EU betonte jedenfalls, die europäische Energieinfrastruktur sichern zu wollen, und drohte mit Sanktionen gegen die Verantwortlichen. Angriffe darauf seien inakzeptabel und würden eine entsprechende Antwort zur Folge habe, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. (Florian Niederndorfer, Alicia Prager, 28.9.2022)