Die Feierlichkeiten zu Rosh Hashanna, dem jüdischen Neujahr, haben für viele Pilger einen hohen Stellenwert.

Foto: Olena Kontsevych

Die Sirenen sind laut genug, um den Gesang zu übertönen, aber aufhören will dieser deshalb nicht. Im Gegenteil. Manche der Sänger scheint der Luftalarm gar zu motivieren, ihre Stimmen noch mehr anzuheben. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass sie angesichts des Gedränges, das sie umgibt, sichergehen wollen, gehört zu werden. Weil die Synagoge schon seit Stunden aus allen Nähten platzt, haben die lokalen Organisatoren draußen zusätzliche Bänke aufgestellt, aber auch die sind längst bis auf den letzten Platz mit Gläubigen bevölkert.

Während die einen still beten, rezitieren die anderen selbstvergessen die hebräische Bibel. Wieder andere telefonieren mit Angehörigen aus aller Welt, denen sie hörbar aufgeregt mitteilen, dass sie es hierher geschafft haben. "Der Krieg? Ja, natürlich weiß ich, dass es hier Krieg gibt. Aber der ist mir egal. Ich bin hier, um näher bei Gott zu sein. Wie alle hier", sagt einer, nachdem er aufgelegt hat.

Die Unterhaltung endet abrupt, weil das Telefon ein paar Sekunden später schon wieder klingelt. "Sorry, das ist mein Cousin aus Brooklyn." "Schalom, shana tova, shana tova. Ja, wir haben es geschafft. Uman, Mann. Uman." Auch wenn der von oben bis unten schwarz gewandete Mann mit dem langen weißen Bart und der Jarmulke, der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung, diesen Namen in den vergangenen 48 Stunden wahrscheinlich hundertmal gesagt hat, steht ihm die Freude, ihn auszusprechen, stets aufs Neue ins Gesicht geschrieben.

Warnungen in vielen Ländern

Am vergangenen Wochenende ging in der sonst unscheinbaren, zu Friedenszeiten 85.000 Einwohner zählenden Kleinstadt im Südwesten der Ukraine eine Veranstaltung über die Bühne, deren Bedeutung für viele ultraorthodoxe Juden kaum zu überschätzen ist. Die dortigen Feierlichkeiten an Rosh Hashanna, dem jüdischen Neujahr, nehmen in ihrem Glaubenssystem einen Status ein, der mit dem von Weihnachten im Christentum oder dem Opferfest im Islam vergleichbar ist.

Im Vorfeld hatten die Regierungen aller Länder, in denen eine namhafte Zahl von Bürgern und Bürgerinnen lebt, die dieser konservativen Glaubensströmung angehören – allen voran die israelische, die amerikanische und die ukrainische –, deshalb koordinierte Reisewarnungen veröffentlicht, im Rahmen derer sie an die Mitglieder der chassidischen Gemeinschaft appellierten, die Reise nach Uman heuer auszulassen. Wie sich schon vor Beginn der Festivitäten erwies, blieben die Rufe, dieses Jahr daheim zu bleiben, aber weitgehend ungehört. Laut den offiziellen Schätzungen der United Jewish Community of Ukraine ließen sich rund 23.000 Gläubige nicht von der Tatsache abschrecken, dass das Land, in dem eine ihrer wichtigsten Pilgerstätten liegt, seit Ende Februar einen Abwehrkampf gegen Russland führt.

Dieses Jahr sind trotz des Krieges rund 23.000 jüdische Gläubige nach Uman gekommen.
Foto: Olena Kontsevych

"Ich kann die Politiker verstehen. Aber viele von ihnen kennen die jüdische Mentalität nicht", sagt Olexander Hmara und lacht: "Schau dich um. Es gibt nichts und niemanden, was diese Leute davon abhalten kann, zu Rosh Hashanna nach Uman zu kommen. Kein Covid, keine Raketen, keine Drohnen, keine Kugeln." Hmara ist Mitte 30, stammt aus der Hauptstadt Kiew und gehört zu einer rund zwei Dutzend Mann zählenden Organisation von ukrainischen Juden, die in Uman für die Sicherheit der Pilger sorgen. "Wir schauen darauf, dass die Kommunikation zwischen ihnen, der Polizei und dem Militär so problemlos wie möglich abläuft. Die meisten unserer Leute sprechen fünf Sprachen: Jiddisch, Hebräisch, Englisch, Ukrainisch und Russisch. Aber vor allem kennen sie die chassidischen Vorschriften und Gesetze. Dementsprechend können sie vermitteln, wenn es zu Missverständnissen kommt."

Tradition seit zwei Jahrhunderten

Die Bandbreite dieser Missverständnisse reiche von der mangelnden Kennzeichnung nichtkoscherer Produkte im Angebot der lokalen Supermärkte über die Vermittlung zwischen Pilgern und übermotivierten Jungpolizisten, die mit dem Habitus und Gestus der Ultraorthodoxen nicht vertraut sind, bis hin zur Zurechtweisung lokaler Taxifahrer, die ausländischen Pilgern bisweilen den doppelten bis dreifachen Fahrtpreis verrechnen. Warum sich Alexander und seine Leute um derlei kümmern, obwohl sichtlich keiner von ihnen den Ultraorthodoxen angehört? "Es spielt keine Rolle, dass wir selbst keine Chassidim sind. Wir sind Juden, und das sind unsere Leute. Und wir sind genauso stolz auf Rabbi Nachman wie sie."

Letzterer ist der Grund, warum seit über 200 Jahren ultraorthodoxe Juden aus aller Welt nach Uman kommen. Sogar zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, als Reisen in die Sowjetunion für westliche Pilger fast unmöglich und öffentliche Gebete verboten waren, ließen sich manche Chassidim nicht davon abhalten, in die Ukraine zu reisen, um zu Rosh Hashanna am Grab von Rabbi Nachman von Braclaw zu beten. Der 1810 verstorbene Nachman war der Urenkel des Mystikers Israel Ben Eliezer, dem Gründer der chassidischen Bewegung, die Anfang des 18. Jahrhunderts in der heutigen West-Ukraine entstand und eine spirituelle Erneuerung des Judentums versprach.

Nachman selbst gilt als Gründervater jener Strömung, die heute landläufig unter "Braclaw Chassidim" firmiert, benannt nach der 100 Kilometer östlich von Uman gelegenen Kleinstadt, in der der Rabbi die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Anders als die Führer ähnlicher jüdischer Sekten, die in dieser Epoche entstanden, betonte er in seinen Schriften, die unter anderem einem gewissen Franz Kafka als Inspiration dienten, die Bedeutung der Lebensfreude im Verhältnis zu Gott. Heute zählen die Braclawer weltweit zwischen 30.000 und 60.000 Mitglieder.

Glücksversprechen für Glaubensbrüder

Wie das Grab von Rabbi Nachman zur Pilgerstätte wurde, ist leicht erklärt. Kurz bevor er im Alter von 38 Jahren starb, rief er seine Anhänger auf, ihn jedes Jahr zu Rosh Hashanna zu besuchen. Sein Versprechen war nichts weniger als das des Glücks: Jeder Jude, der den Anbruch des neuen Jahres in Uman verbringe, werde nämliches in den kommenden 355 Tagen – so viele zählt der jüdische Kalender maximal – im Überfluss haben. Was im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte unter anderem dazu führte, dass die Rosh-Hashanna-Feierlichkeiten in Uman mittlerweile längst auch tausende Chassidim anderer Strömungen und da und dort sogar säkulare Juden anlocken.

Gemäß der religiösen Tradition der Ultraorthodoxen handelt es sich dabei praktisch ausschließlich um Männer. Die wenigen Pilger, die ihre Frauen in die Ukraine mitnehmen, lassen sich auch dieses Jahr, wie in jedem zuvor, an einer Hand abzählen. Auch Journalistinnen und Fotografinnen dürfen das Gelände rund um die Synagoge nur unter Begleitung von schwer bewaffneten ukrainischen Polizisten betreten.

"Was soll ich sagen: Sie haben ihre Traditionen, wir haben unsere. Solange sich alle bewusst sind, welche Regeln sie einzuhalten haben, gibt es keine Probleme", sagt der stellvertretende Polizeikommandant, in dessen Verantwortung die Sicherheit rund um das Gotteshaus fällt, und zuckt mit den Schultern: "Ihnen ist es offenbar egal, dass sich unser Land im Krieg befindet, und davor muss man Respekt haben." (Klaus Stimeder aus Uman, 29.9.2022)