Die Handelslogistik soll künftig mit Unterstützung durch künstliche Intelligenz effizienter werden. Dadurch sollen nicht nur weniger Lebensmittel im Müll landen, sondern auch die Warenverfügbarkeit in Krisen verbessert werden – Stichwort Hamsterkäufe. Michael Feindt, Experte für künstliche Intelligenz (KI) in der Logistik, beklagt eine noch geringe Akzeptanz der Technologie in Mitteleuropa.

Viele Manager vertrauen bei der Bedarfsplanung ihrem Bauchgefühl. Einer künstlichen Intelligenz, die die Aufgabe nachweisbar besser erledigt, stehen sie skeptisch gegenüber.
Foto: Getty Images / iStockphoto

STANDARD: Pandemie und Ukraine-Krieg haben die Lieferketten durcheinandergewirbelt – mit starken Nachteilen für Konsumentinnen und Konsumenten. Wie kann eine Logistik, die von künstlicher Intelligenz unterstützt wird, hier dem Handel helfen?

Feindt: In chaotischen Krisenzuständen kann künstliche Intelligenz natürlich auch nicht zaubern. Aber sie kann aus der Vergangenheit lernen und Voraussagen treffen. Der Algorithmus kann deutlich komplexere Zusammenhänge erfassen als ein einzelner Mensch, auch wenn dieser sehr erfahren ist. Zunächst wurden die Systeme aber nicht für Krisensituationen gemacht. Sie haben etwa gelernt, dass das Kaufverhalten, abhängig von Region, Stadt oder Land, vom Wetter oder anderen Faktoren, unterschiedlich ist. Die KI kann bei der Entscheidung helfen, wann was wohin zu transportieren ist und wie viel an einem Ort gelagert werden soll. Schon vor Corona wurde aber daran gearbeitet, die Systeme resilienter zu machen.

STANDARD: In welcher Weise?

Feindt: Sie sollten sich schnell an unerwartetes Verhalten, das nicht aus den Daten der Vergangenheit abzuleiten war, anpassen, beispielsweise wenn durch eine Baustelle vor dem Supermarkt die Kundenzahl zurückgeht. Bei einer signifikanten Abweichung von Prognose und Realität wird automatisch anhand dieser neuen Erkenntnis nachgelernt – das ist das Geheimnis. Zu Beginn der Pandemie hat diese Funktion geholfen. Da ging es dann plötzlich nicht um kleine, sondern um sehr große Korrekturen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Feindt: Die Systeme haben schnell gelernt, dass es zu Hamsterkäufen kommt. Als es bei den Verkaufszahlen von Toilettenpapier eine erste signifikante Abweichung gab, konnte das System seine Prognose sofort anpassen. Wenig später konnte es bereits unterscheiden, dass die Hamsterkäufe Standorte in Wohngegenden viel stärker betrafen als Fremdenverkehrsorte. Es ist wie automatisierte Wissenschaft. Jetzt, mit dem Ukraine-Krieg, haben wir neue Probleme. Wir werden sie mit KI nicht lösen, können uns aber ebenfalls schneller anpassen.

STANDARD: Wie gut sind Technologien dieser Art bereits in der Praxis angekommen?

Feindt: Ich denke, dass das System gerade für Supermarktketten mit sehr vielen ähnlichen Filialen besonders gut geeignet ist. Gerade in Zentraleuropa gibt es aber noch viel Skepsis. Manager und Disponenten hören oft lieber auf ihr Bauchgefühl. Für sie ist es schwierig zu akzeptieren, dass eine Maschine hier besser sein kann – was aber empirisch bewiesen ist. Interessanterweise ist die Akzeptanz in Schwellenländern, etwa in Südamerika oder Südasien, viel höher. Dort überspringt man einen ganzen Technologiezyklus und führt die neuesten Systeme ein.

STANDARD: Was sind die Vorteile?

Feindt: Wir haben schöne Beispielfälle, bei denen die Effizienz der Handelsstandorte stark gestiegen ist. Die Warenverfügbarkeit nimmt zu, gleichzeitig laufen weniger Produkte ab und werden weggeworfen. Die Mitarbeiter sind zufriedener, weil sie weniger Stress beim Nachfüllen der Regale haben. Filialleiter fanden es besser, weil sie nicht täglich stundenlang Nachbestellungen eingeben müssen. Die Automatisierung führt auch nicht notwendigerweise zu Personalabbau. Man kann auch sagen: Das Personal ist wieder für den Kunden da und sorgt für ein einladendes Geschäft. Das hat wiederum höhere Kundenzufriedenheit zur Folge. Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit lassen sich zwar nicht unmittelbar in Geld ausdrücken, sind langfristig aber wichtig.

STANDARD: Die KI-Systeme für den Handel sollen künftig auch mit Sensortechnologien ergänzt werden. Wie sieht so ein Szenario aus?

Feindt: Ein Problem ist die Qualität der Daten. Im Computer ist vielleicht ein Bestand von zehn Stück vermerkt, das bedeutet aber nicht, dass auch zehn Stück im Regal sind. Je öfter man eine Inventur machen kann, desto besser ist es – nicht nur in der Filiale, sondern in allen Verteilzentren entlang der Supply-Chain. Die Idee ist, intelligente Regale zu entwickeln, die ihren Inhalt wiegen oder über Kamerasensoren erfassen. Irgendwann könnten durch Technologien wie diese Filialen ganz ohne menschliche Betreuung auskommen. Ich glaube aber nicht, dass der gesamte Handel in diese Richtung gehen wird. Es wird weiterhin Segmente geben, in denen das Einkaufserlebnis mit persönlicher Beratung wichtig ist.

STANDARD: In der Krise wird auf Sicherheit gesetzt. Man kümmert sich um alternative Lieferanten, regionale Produkte stehen höher im Kurs. Eine nachhaltige Entwicklung?

Feindt: Die Frage ist immer, was man optimiert: Wenn man KI-Systeme einsetzen möchte, muss man das Problem zuvor präzise mathematisch erfassen. Oft steht hier der kurzfristige Profit im Vordergrund. Würde man langfristiger denken, würde man darauf achten, nicht nur einen Lieferanten zu haben und regionale Optionen zu haben. Die Erfahrung, die wir jetzt machen, zeigt, dass es nicht optimal ist, alles aus China zu beziehen. Wir lernen Resilienz. Die Finanzkrise von 2008 hat aber leider auch gezeigt, dass die Krisenerfahrung schnell wieder vergessen ist. In ruhigeren Zeiten gibt es dann wieder die Tendenz, das Billigste zu nehmen. Gerade in Aktiengesellschaften werden strategische Entscheidungen in Hinblick auf das nächste Quartal gemacht, nicht auf die nächsten zehn oder 20 Jahre. Ich halte es für falsch, aber die Märkte arbeiten so. (INTERVIEW: Alois Pumhösel, 29.9.2022)