Proteste gegen die Corona-Politik in Michigan.

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Bevor er nach Owosso fuhr, in eine verschlafene Kleinstadt in Michigan, hatte Luke Mogelson zehn Jahre lang aus Kriegs- und Krisengebieten berichtet, aus Afghanistan und dem Irak, aus Syrien und Liberia. Als sich das Coronavirus auch in den USA ausbreitete, flog er nach Hause, um zu beschreiben, wie sich seine Landsleute in pandemischen Zeiten verhielten. In Paris, wo er gelebt hatte, wenn er mal nicht in Konfliktregionen unterwegs war, beobachtete er Menschen, die im Großen und Ganzen akzeptierten, was die Regierung an Restriktionen verfügte, weitaus strenger als in Amerika.

In Owosso, Michigan, wurde Karl Manke verklärt zum Symbol heroischen Widerstands gegen einen vermeintlich diktatorischen Staat.

Manke (77), Betreiber eines Friseursalons, war fest entschlossen, die Regeln des Lockdowns zu ignorieren. Auflagen, die Michigans Gouverneurin Gretchen Whitmer in der Hoffnung verhängt hatte, die Epidemie einzudämmen – in diesem Fall ein vorübergehendes Verbot körpernaher Dienstleistungen. An einem Frühlingstag des Jahres 2020 öffnete Manke die Tür seines zwischenzeitlich geschlossenen Geschäfts, um trotz Verbots wieder Haare zu schneiden. Womit die Main Street von Owosso zum Brennpunkt wurde. Leute, von denen manche von weither anreisten, feierten Manke als Helden, der sich tapfer wehrte gegen eine tyrannische Gouverneurin, die, ließe man sie gewähren, dem "Land der Freien" sämtliche Freiheiten nehmen würde. Zur gleichen Zeit schrien Gegner jeglicher Corona-Auflagen, einige bewaffnet, Wachleuten im Kapitol des Bundesstaats ihre Wut ins Gesicht. Bilder zorniger Männer in militärischer Tarnkleidung, die mit Karabinern durch amerikanische Städte liefen: Er habe sein Land nicht wiedererkannt, schreibt Mogelson.

Rechtes Paralleluniversum

Von Michigan reiste der Reporter des Magazins "The New Yorker" nach Portland im Pazifikstaat Oregon, Schauplatz heftiger Proteste linker Demonstranten, die von Rechtsnationalisten permanent provoziert wurden, etwa durch einen Pick-up-Konvoi, der aus hunderten Fahrzeugen bestand. Mogelson hörte wilde Gerüchte, nach denen Waldbrände im Umland auf das Konto der Antifa gingen, nach denen Aktivisten mithilfe von Kettensägen Strommasten zu Fall brachten, auf dass der Funkenschlag ein Feuer auslöse. Die Gerüchte wurden widerlegt – und trotzdem immer wieder aufgewärmt. Im Paralleluniversum der Rechten, beobachtete Mogelson, werde die Antifa, im Grunde nur ein Etikett für eine Reihe linksradikaler Splittergruppen, zu einer gefährlichen Gigantin, der man so ziemlich alles zutraue. Gleiches gelte für "Black Lives Matter", die Bewegung, die gegründet wurde, um exzessive Polizeigewalt gegenüber Schwarzen zu thematisieren. Die eigene Paranoia, projiziert auf andere.

Die monatelange Exkursion endete in Washington, wo rechtsradikale Milizen wie die Oath Keepers, die Proud Boys, die Three Percenters nach dem Wahlsieg Joe Bidens zweimal aufmarschierten, erst im November, dann im Dezember. Das wenig beachtete Vorspiel zu dem, was am 6. Jänner 2021 mit dem Sturm auf das Kapitol ein schockierendes Finale fand. Wie Mogelson sie erlebte, die Heimat, die sich oft fremd anfühlte, hat er in einem lesenswerten Buch zusammengefasst, "The Storm Is Here: An American Crucible".

Vieles davon ist bereits erzählt worden, das eigentlich Interessante sind die Vergleiche, die der Zurückkehrende anstellt. Vergleiche zwischen den Vereinigten Staaten, wo der friedliche Übergang der Macht nach einer Wahl ebenso oft praktiziert wie akzeptiert worden war, und Ländern, in denen politische Konflikte gewaltsam ausgetragen werden. Jeder Bürgerkrieg, über den er berichtete, hatte seine Wurzeln in echten Verletzungen, erzählt Mogelson. Er schildert es am Beispiel von Mosul, wo sich ein Spezialkommando der irakischen Polizei von Haus zu Haus kämpfte, bereit zu enormen Opfern, um die Herrschaft des "Islamischen Staats" in der Stadt zu brechen. Die meisten dieser Polizisten hätten einen sehr konkreten, sehr persönlichen Grund für ihren Einsatz gehabt. In dem Körper des einen steckten noch rund vierzig Schrapnell-Splitter, nachdem er mehrere Selbstmordanschläge überlebt hatte. Ein anderer zeigte dem begleitenden Journalisten irgendwann ein Video, gespeichert auf seinem Handy, aufgenommen vom IS. Es zeigte die Enthauptung eines Gefangenen, die Hinrichtung seines älteren Bruders.

Pure Einbildung

In Amerika dagegen, wo inzwischen verstörend häufig das Bild eines drohenden Bürgerkriegs an die Wand gemalt werde, so Mogelson, beruhe vieles statt auf realen Wunden auf purer Einbildung. Auf Zerrbildern, besonders auf jenen der Rechten. Deren Feinde seien "entweder wilde Übertreibungen oder reine Fantasiegebilde – Supersoldaten von Antifa, totalitäre Globalisten, satanische Pädophile". Wie das alles hochgespielt werde zu einer angeblich existenziellen Bedrohung des American Way of Life, das habe ihn genauso überrascht wie die Tatsache, dass viele wirklich an das Bedrohungsszenario glaubten. Ob diese sehr reale Angst vor irrealen Gefahren ausreiche für einen heißen, anhaltenden Konflikt, das wisse er nicht. Er habe dergleichen noch nicht erlebt in seinem Land. (Frank Herrmann, 30.9.2022)