Im Gastblog zeigt Rechtswissenschafterin Lisa Isola, wie rechtliche Strukturen der Vergangenheit in veränderter Form weiterhin bestehen.

Ein simpler Vergleich zum Einstieg: Was haben der Satz des Pythagoras "In einem rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Kathetenquadrate gleich der Fläche des Hypotenusenquadrats" (oder als Formel dargestellt: a² + b² = c²) und der Satz "Der abgeleitete Eigentumserwerb ist von der dinglichen Berechtigung des Vormannes, einem rechtfertigenden Grund für die Übertragung und einem anerkannten Übertragungsmodus abhängig" gemeinsam? Die Antwort lautet: Beide Erkenntnisse wurden in der Antike gewonnen – und beide haben noch heute Gültigkeit.

In der Mathematik wie in der Jurisprudenz überwucherten die in den Jahrhunderten seit diesen Erkenntnissen entwickelten Präzisierungen und Verästelungen die grundlegenden Aussagen der Anfänge ihrer Disziplin. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass zwar alle kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen auf dem Römischen Recht basieren, aber etwa in Deutschland, Österreich und Frankreich unterschiedliche Voraussetzungen für den Eigentumserwerb bestehen – was ein "rechtfertigender Grund" ist, was ein "anerkannter Übertragungsmodus", kann eben unterschiedlich interpretiert beziehungsweise definiert werden. Das Eigentumsrecht als solches ist aber immerhin allen drei genannten Rechtsordnungen als Konzept geläufig; auch das ist in der gemeinsamen Geschichte begründet und keine Selbstverständlichkeit.

Kaiser Justinian I. hat im 6. Jahrhundert nach Christus die Zusammenstellung der wichtigsten Rechtstexte der juristischen "Klassik" (welche circa die ersten zweieinhalb Jahrhunderte nach Chr. umfasst) veranlasst und sie in Form des später so genannten Corpus Iuris Civilis der Nachwelt bewahrt.
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Dass man die Ausgangspunkte und damit Grundstrukturen kennen muss, um den Überblick im Urwald der verschiedenen Theorien, Formeln und Normen behalten zu können, leuchtet für die Mathematik oder Physik unmittelbar ein. Nun, ebenso verhält es sich auch im Recht. Für das Recht stellt ebendiese Grundstruktur das in vielen Aspekten so zeitlose Römische Recht dar.

Fortbestand in Veränderung

Freilich "gilt" nicht alles heute noch unmittelbar, wie auch nicht alle Theorien des Pythagoras heute noch "gelten" (man denke an die Entdeckung der Inkommensurabilität). Manches – wie die Sklaverei oder die Vermögenskonzentration in der Hand von Familienvätern – ist heute als soziale Voraussetzung für das Recht überwunden. Doch selbst im Zusammenhang mit diesen per se überwundenen Rechtseinrichtungen Entwickeltes ist maßgebliche Voraussetzung für unser heutiges Recht: So ist etwa das Recht der Stellvertretung, des Handelns mit Wirkung für andere, eine unmittelbare Folge der Vorstellung, dass Familienmitglieder (inklusive Sklavinnen und Sklaven) Rechtswirkungen für den Familienvater erzeugen können. Insofern "gilt" das Römische Recht heute noch ebenso wie die Fläche des Hypotenusenquadrats im rechtwinkeligen Dreieck noch heute gleich der Summe der Kathetenquadrate ist.

Auch in der Physik oder Elektrotechnik braucht man zur Erklärung Modelle: Zum Verständnis ist es etwa sinnvoll, das Bohr'sche Atommodell heranzuziehen, obwohl es als "überholt" gilt. Es legt jedoch das Grundverständnis für das nächsthöhere Modell. Wenn man geltendes Recht insofern positiv besetzen möchte, dass es "höher" ist, passt der Vergleich auch hier; man könnte aber auch schlicht von "jünger" sprechen. Das moderne Recht ist ausdifferenzierter, aber genau darin liegt auch ein Schwachpunkt: Es ist mitunter zu ausdifferenziert und dabei in sich nicht immer stimmig.

Gemeinsames Fundament für Diskussionen

Seit Beginn der universitären Ausbildung erfolgte diese für europäische Juristen aller Nationalitäten jahrhundertelang im "gelehrten Recht", also – salopp gesagt – vor allem im Römischen Recht. Das gilt für das Mittelalter ebenso wie für die Neuzeit. Das jeweilige lokale Gewohnheitsrecht erlernte man in der Berufspraxis. Das Römische Recht war bis zu den Kodifikationen des 19. und 20. Jahrhunderts "in Geltung", auch wenn das lokale Gewohnheitsrecht großteils Vorrang hatte und dadurch Teile des Römischen Rechts an verschiedenen Orten nicht zur Anwendung gelangten. Selbst als das Allgemeine Preußische Landrecht Ende des 18. Jahrhunderts in Kraft trat, wollte man weiterhin internationale Studierende anziehen und blieb in der Ausbildung beim Römischen Recht. Gleichwohl das Recht auch zu dieser Zeit entsprechend vielfältig war und von Land zu Land wie auch von Zeit zu Zeit variierte, bestand eine gemeinsame intellektuelle Einheit, und die an denselben Quellen orientierte wissenschaftliche Ausbildung erlaubte eine rationale und grenzüberschreitende Diskussion, da die verschiedenen Ausprägungen als Varianten ein und desselben Themas begriffen wurden, wie Reinhard Zimmermann aufgezeigt hat.

Das Römische Recht ist nach Paul Koschaker "Mittler unter den großen Europäischen Privatrechtssystemen (...), die sich schließlich über den ganzen Erdball verbreitet haben". Es ist zwar ursprünglich römisch, aber schon seit einer sehr langen Zeit universell. Theo Mayer-Maly stellte schon 1991 fest: "Das, was wir jetzt als einen fernen Traum ansehen, haben wir vor 220 Jahren noch bequem gehabt, ein europäisches ius commune, mit dem sich einige Partikularitäten verbunden haben. (...) Die nationalstaatlichen Privatrechtsordnungen sind, gemessen an der Dimension der Rechtsgeschichte, kurzfristige Episoden."

Eine Beschäftigung mit dem Römischen Recht ist daher nicht nur "Bildungszierrat", sondern macht mit den Grundlagen der europäischen Privatrechte vertraut, die heute mühsam Regelungsmaterie für Regelungsmaterie wieder verschmolzen werden. (Lisa Isola, 5.10.2022)