Karl Schwanzer, ca. 1972, hat die Gesetzmäßigkeiten von Architektur und Schwerkraft komplett auf den Kopf gestellt.

Foto: Atelier Schwanzer

Information: Bei den gefetteten Stellen im Text handelt es sich um Originalzitate Schwanzers.

Sobald wieder ein Stockwerk am Boden zusammengebaut war, zeiteffizient und auf den Millimeter genau, wurde es an den rund 80 Meter langen Stahlseilen um ein paar Meter nach oben gezogen und hydraulisch nach oben gepumpt, und die nächste Etage war dran. Damit hat Karl Schwanzer die Gesetzmäßigkeiten von Architektur und Schwerkraft komplett auf den Kopf gestellt: Der 22. Stock wurde zuallererst montiert, der erste zuallerletzt. Architektur ist ja nicht etwas Statisches, sondern wird erlebt.

Das 1972 fertiggestellte BMW-Hochhaus am Petuelring im Norden Münchens ist laut DIN-Norm kein Gebäude, sondern eine Hängebrücke. Um das Gewicht der einzelnen Bauteile zu reduzieren, hat Schwanzer ausschließlich mit Leichtbauelementen gearbeitet. So wurde für die 2304 Fassadenelemente etwa – erstmals in Europa – ein Alugussverfahren eingesetzt, das Schwanzer auf einer seiner Reisen nach Japan entdeckt hat. Ohne völlige Hingabe an ein Werk ist keine Optimierung einer Leistung denkbar.

Die charakteristische Schrägstellung der Fenster ist nicht etwa gestalterische Willkür, sondern hatte die Aufgabe, den Raumschall von Tippen und Telefonieren, aber auch den eindringenden Straßenlärm gegen die Akustikdecke zu lenken, ehe er abgedämpft auf die Arbeitsplätze zurückreflektiert wurde. Das Streben nach der besten Lösung, nach Vollkommenheit ist dem menschlichen Wesen zutiefst inhärent.

Nicholas Ofczarek schlüpft im Film in die Rolle von Karl Schwanzer.
Foto: Max Gruber

Sogar schon in der Wettbewerbsphase landete Schwanzer einen Coup. Um den damals noch skeptischen BMW-Vorstand vom Entwurf und vor allem von der runden Konstruktion zu überzeugen, ließ er in den Bavaria-Filmstudios auf eigene Kosten eine ganze Büroetage als 1:1-Modell aufbauen – mit Fassade, Möblierung, Schreibmaschinen, Münchner Fotopanorama und einer ganzen Crew an Schauspielerinnen und Statisten. Eine Million Schilling kostete ihn das taktische, wiewohl erfolgreiche Unterfangen. Die Architekturgeschichte zeigt, dass für großzügige Lösungen auch Opfer erbracht werden müssen.

Der BMW-Vierzylinder in München war schon als Baustelle eine Ikone.
Foto: BMW-Archiv

Bis heute ist der "BMW-Vierzylinder", seit 1999 unter Denkmalschutz stehend, eine der wichtigsten Ikonen europäischer Nachkriegsarchitektur – und zudem ein absoluter Pionier in Sachen Büroarbeit und Corporate Architecture. Aber hat ein Haus nur die Funktion, den Menschen drinnen zu dienen – und nicht auch den vielen, die es von außen erleben und anzusehen haben? Das Haus als Erscheinung, wie es die Umwelt bestimmt, gehört uns allen.

Die unendliche Passion Schwanzers

Rechtzeitig zum 50. Geburtstag des Vierzylinders hat der österreichische Filmemacher Max Gruber, der vor drei Jahren bereits mit seinem genialen Comic Schwanzer. Architekt aus Leidenschaft auf sich aufmerksam gemacht hatte, nun einen Dokumentarfilm gedreht, der den Wahnsinn dieses Projekts und die unendliche Passion Schwanzers anschaulich macht. Wenn man sich entschlossen hat, Architekt zu sein, muss man den Mut aufbringen, Visionen erfüllen zu wollen.

"Schwanzer steht für eine große künstlerische Kraft, für eine dramatische, aber undogmatische Suche nach tiefer Wahrhaftigkeit", sagt Gruber. "Mich fasziniert, wie ganzheitlich er gedacht und gearbeitet hat. Auf der einen Seite war er ein Poet, hat Texte und Lyrik geschrieben, auf der anderen Seite war er ein grandioser Manager und hat damals schon ein Büro mit mehr als 100 Mitarbeitern geschupft. Er war ein Billy Wilder der Architektur!" Oft werde ich gefragt: Was ist Ihre Spezialisierung? Meine Spezialisierung ist die Mehrgleisigkeit, die ins Weite führt.

Die 73-minütige Doku basiert auf aktuellen Bildern, historischem TV-Material und bislang unveröffentlichten Super-8-Filmen aus dem privaten Archiv. Zu Wort kommen ehemalige Studenten und Mitarbeiterinnen Schwanzers, aber auch BMW-Leute und zeitgenössische Kommentatoren. Und dann ist da noch ein nachdenklich dreinblickender Nicholas Ofczarek, Hornbrille und Stecktuch, in der Verkörperung des 1975 verstorbenen Ausnahmearchitekten. Dass niemand an die Denkmäler von morgen denkt! Das aber ist unser Auftrag, den wir von der Geschichte bekommen haben – dass wir Architekten Spuren hinterlassen.

Foto: Atelier Schwanzer

"Ich bin kein Architekt, und ich nehme mir nicht das Recht, mir ein Urteil über seine Bauten zu bilden", sagt Ofczarek im Interview mit dem STANDARD. "Aber die Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit entfaltet einen Sog, dem man nicht widerstehen kann. Wie dieser Mann gedacht hat und wie er formuliert hat, was Architektur, Kunst und Schönheit anbelangt, ist für jeden kreativen – und auch unkreativen – Menschen eine große Inspiration. Der Versuch, ins Unbekannte vorzustoßen, erfordert den Mut zur Unvollkommenheit – wie den zum Besseren.

Die Welt schöner machen

"Ich kannte zwar das Philips-Haus und natürlich auch das 20er-Haus im Schweizergarten, aber wirklich kennengelernt habe ich Schwanzer letztendlich über seine Texte", meint Ofczarek. "Der Charakter formt sich energetisch in dem, was der Mensch gesagt hat und was in Schrift und Sprache materialisiert ist. Wenn man auf diesen Inhalt vertraut, schafft man es, zum Wesen vorzudringen. Ich glaube, ich bin Schwanzer nähergekommen." Das Abtauchen in die eigene Tiefe, der Wahrheit auf den Grund gehen, das kann man nur selbst.

Filmdelights

Max Gruber, Nicholas Ofczarek und den zu Wort kommenden Zeitgenossen ist es gelungen, Schwanzer in einer großen Vielschichtigkeit zu porträtieren – als Architekten, Manager, Lehrer, als leidenschaftlichen Visionär und unermüdlichen Workaholic, als einen, der es versteht, das Künstlerische und Programmatische mit dem Unternehmerischen und Pragmatischen zu verbinden. Nur wenige Menschen sind zu Spitzenleistungen prädestiniert. Diese Auswahl ist die Macht des Schicksals.

Der Film hilft zu verstehen, was früher einmal war und heute nicht mehr ist. Nämlich die Überzeugung, dass Architektur die Welt nicht nur zubaut, sondern sie auch ein Stückchen schöner und besser macht. Wie sagte doch Karl Schwanzer? Die Architekten besitzen ein Instrument, Menschen glücklich zu machen. (Wojciech Czaja, 30.9.2022)