AMS-Chef Johannes Kopf und Autor Wolf Lotter im Gespräch über die Zukunft von Homeoffice.

Foto: Heribert Corn

Undenkbar. Vor drei Jahren konnten sich sechs von zehn Unternehmen absolut nicht vorstellen, dass Homeoffice Teil üblicher Arbeitsorganisation sein könnte. Jetzt bieten das neun von zehn Firmen an, erheben die Berater von Deloitte. Was sind die Konsequenzen dieses durch die Pandemie erzwungenen, radikalen Wandels? Wer verliert, wer gewinnt, was heißt das für Bürotürme in Städten und für die Baukultur im ländlichen Bereich? Ob wir sozial vereinsamen und was auf dem Weg in eine neue Arbeitswelt alles fehlt – darüber sind sich Autor und Essayist Wolf Lotter und Johannes Kopf, der Chef des Arbeitsmarktservice AMS, nicht ganz einig. Dass vieles nicht passt – da stimmen die beiden zu.

STANDARD: Laut aktueller Erhebung des Ifo-Instituts in 27 Ländern hat sich Homeoffice mittlerweile mit rund ein bis zwei Tagen etabliert. Ist das gut, und ist schon alles paletti mit der sogenannten hybriden Arbeit?

Lotter: Das ist sehr gut. Wir müssen jetzt aber einen Schritt weiter gehen, damit es auch klappt – nicht mit Kasperln und Pingpong-Tischen in Büros, sondern Unternehmen müssen die Strukturen ändern und die Organisation an die neue Zeit anpassen. Homeoffice ist ein schwieriger Begriff. Es geht eigentlich um die Neuorganisation von Arbeit, um ein neues Bewusstsein, neue Rahmenbedingungen.

Kopf: Es ist gut – aber in Maßen. Ich bin eher der Restriktivere. Zu viel Homeoffice ist nicht gut in puncto Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Da merkt man nicht mehr, wenn es den Leuten nicht gutgeht – und es gibt natürlich auch sozial viele ungelöste Themen.

STANDARD: Was wäre denn ein richtiges Maß? Zwei Tage? Nur nicht Montag und Freitag? Manche machen ja sogar nur Homeoffice, in anderen Berufen ist das gar nicht möglich, und wieder andere haben ihre Leute gerne um sich in den Büros versammelt sitzend.

Lotter: Mit der Festlegung eines Maßes werden wir uns am meisten reiben. Sie haben grundsätzlich schon recht, Herr Kopf. Klar brauchen wir Begegnungen, bei denen zufällig Ideen entstehen, in der Teeküche, am Gang. Das ist notwendig und wichtig. Aber zuerst muss eine ganz andere Vorstellung in die Arbeitswelt, wie Arbeit organisiert wird. Jetzt geht es dringend um echte Vielfalt. Wir unterscheiden zu wenig. Das liegt an der alten Arbeitskultur, die wir haben, diese alte, industrielle Kultur, die nach Einheit sucht. Wir haben jetzt aber eine Welt, in der alles verschieden ist. Deswegen kann man nicht festlegen, dass es den einen Tag geben muss, an dem alle im Büro sein müssen. Die Zeit der festen Zeiten ist vorbei. Wir müssen andere Organisationsformen finden – nur wissen wir noch sehr wenig darüber.

STANDARD: Da stoßen wir aber auch an rechtliche Grenzen. Wir haben Arbeitszeitgesetze, wir haben ein Regelwerk für die "alte Arbeitskultur", wie Sie sagen. Und wir sehen doch jetzt im Homeoffice schon große Graubereiche – Stichwort Arbeitszeitaufzeichnungen und dauernde Erreichbarkeit.

Kopf: Wir haben arbeitsrechtlich viel, das so lange okay ist, solange Einvernehmen herrscht. Es eskaliert erst, wenn das Einvernehmen endet. Ein Beispiel: Ich habe sehr viele Mitarbeitende im Arbeitsmarktservice, die enorm engagiert sind und die mir auch sonntags Mails schicken. Die kriegen von mir ein böses Mail zurück, wo ich sie darauf hinweise, dass Wochenendruhe besteht und sie nicht arbeiten dürfen. Ich kriege die Mails dann montags ganz früh. Damit müssen sich Arbeitgeber beschäftigen, es geht wirklich um die Gesundheit der Mitarbeiter. Da bin ich wieder bei der Fürsorgepflicht. Und Homeoffice in einer großen Wohnung ist etwas anderes als Homeoffice mit schreienden Kindern in einer kleinen Wohnung. Da haben wir viele ungelöste Themen.

DER STANDARD

STANDARD: Es ist auch ein Genderthema sichtbar geworden: Homeoffice wird gerne als tolle Möglichkeit ausgelobt, um Müttern die Vereinbarkeit zu ermöglichen. Im Homeoffice arbeiten, den Haushalt schupfen und daneben die Kinder zu betreuen kann aber schnell zu einer Falle werden.

Lotter: Dass Frauen im Homeoffice Betreuungspflichten haben, ist skandalös! Es ist eine Falle, wenn wir nicht aufpassen – eben weil wir noch die alten Arbeits- und Sozialstrukturen haben. Ich möchte aber diese Fürsorgepflicht, von der Sie sprechen, überdenken. Es kommt doch darauf an, über wen wir reden: einen hoch bezahlten Entwickler oder eine Designerin – da wird man in der Fürsorge auf geringerer Schwelle ansetzen müssen. Bei Telefonservices, im Blue-Collar-Bereich ist viel mehr gefragt. Aber das sind völlig unterschiedliche Welten. Wir müssen diese Krise nützen, um insgesamt zu mehr Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu kommen. Wir müssen Menschen dazu bringen, dass sie am Sonntag keine Mails schreiben – auch nicht heimlich. Es geht jetzt um eine große Bildungsoffensive in selbstverantwortlicher Arbeit! Und da müssen wir richtig anzah’n, wenn ich das so salopp sagen darf, weil das versäumen wir gerade. Wir versuchen halt noch immer brav, die alten Industriearbeitsgesetze umzusetzen. Dass vor allem Frauen im Homeoffice dann Mehrbelastungen haben, kann nur gelöst werden, indem wir gute Ganztagesbetreuung und flächendeckend Kindergärten anbieten. Für Bürositzer wie für Homeoffice-Sitzer.

STANDARD: Apropos sitzen: Wer keine angemessene Wohnung hat, hat’s weniger lustig im Homeoffice, und die optimale ergonomische Ausstattung ist ein offenes Thema. Das Arbeitsinspektorat darf ja nicht in die privaten Gemächer, tatsächlich ist das auch so ein Graubereich.

Kopf: Wir haben uns vor der Pandemie lange mit den optimalen Gesundheitssesseln beschäftigt, mit der Ergonomie, mit dem notwendigen zweiten Bildschirm in bester Auflösung – nix davon haben die Leute zu Hause. Wir müssen uns dringend mit der Ergonomie zu Hause beschäftigen! Arbeitsgesundheit ist ein riesiges Thema. Das ist Arbeitgeberpflicht in der Fürsorge. Burnout ist ein Phänomen – gut Qualifizierte gehen im Homeoffice selbstverständlich zum Flötenkonzert der Tochter am Vormittag, sind aber genauso selbstverständlich dauernd erreichbar und dauernd dran am Job. Man geht ja nicht mehr nach Hause und lässt die Arbeit im Büro. Da stecken so viele Themen drinnen, wo der Umgang erst entwickelt werden muss.

Lotter: Ja klar, richtig. Aber die Leute müssen auch lernen, sich ein bissel selber auf die Füß’ zu stellen. Natürlich unterstützt vom Staat in einer großen Offensive, aber selbstgemacht letztlich. Vielleicht sollte man zum Thema Ergonomie auch mal mit Selbstständigen reden, die immer schon von zu Hause aus gearbeitet haben. Ich mache das seit 25 Jahren beispielsweise, man glaubt gar nicht, dass das gutgeht, und nimmt immer gleich das Möbelprekariat im Homeoffice an, das stimmt so doch nicht.

Johannes Kopf analysiert, dass Unternehmen ohne Homeoffice-Angebote auf der Verliererstraße sind und vermisst Bewusstsein für Arbeitsgesundheit und Bindung an die Firma.
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STANDARD: Bleiben wir doch noch bei der Gesundheit, die ja auch mentale Dimensionen hat. Vereinsamung, Vereinzelung sind große Themen, die auch mit Homeoffice in die Diskussion gekommen sind. Oder werden wir sogar irgendwie zu Soziophobikern, weil wir verlernen, die Gegenwart anderer Menschen, die wir vielleicht gar nicht so mögen, die uns stören, auszuhalten?

Lotter: Nein, das glaube ich gar nicht. Es gibt Leute, die haben eine gute Arbeit und sind happy mit ihren Chefs. Aber es gibt andere, die müssen machen, was der Chef sagt, die nur Mitarbeiter und nicht Partner sind. Dieses Menschenbild in der Arbeitswelt muss sich ändern. Ich glaube das Märchen nicht, dass ich vereinsame, wenn ich nicht ins Büro gehe. Menschen leben kreativ aus, was sie tun wollen. Die kommen nach Hause und organisieren Feuerwehrfeste, bauen ihr Haus und leben ihre Talente aus. Oft die, die sie in der Firma gar nicht anbringen dürfen. Und bitte: Man sucht sich als Erwachsener seine Freunde doch aus, man ruft an, geht raus. Ich kenne überhaupt niemanden, der im Homeoffice einsam ist.

Kopf: Gut, ich glaube auch nicht, dass alle vereinsamen im Homeoffice. Allerdings ist Mitarbeiterbindung definitiv ein Thema, wenn nicht sogar ein Problem. Man ist anders verbunden, wenn man auch mal plaudert in der echten Welt, gemeinsam einen Kaffee trinken geht. Wir haben schon Stelleninserate, die komplett nur mehr Homeoffice anbieten. Aktuelles Beispiel dazu: Eine IT-Firma hat zehn Entwickler im EU-Ausland. Die waren nie in einem Büro. Jetzt haben alle zehn gleichzeitig gekündigt – eine britische Bank hat mehr gezahlt. Die waren sofort weg. Wie bitte binde ich meine Mitarbeiterin, die die ganze Woche in einer umgebauten Spar-Filiale im Co-Working-Space im Waldviertel oder in ihrem Haus sitzt? Es ist nicht unmöglich, aber das Thema ist größer, als Unternehmen das derzeit wahrnehmen.

Lotter: Ich bin ja nicht der Anwalt der völlig dislozierten Arbeit. Aber wenn wir uns anschauen, warum denn die Leute Unternehmen verlassen: Laut Gallup-Umfrage haben nur 17 Prozent wirklich eine emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber. Das ist sehr, sehr wenig – und da reden wir noch über Umfragen in einer traditionellen Arbeitswelt, nicht im Homeoffice. Bitte, da stimmt doch etwas anderes nicht, da passt doch das gelobte Bild des Unternehmens als Ort der Familie und des Zusammenhalts nicht.

STANDARD: Es hat sich aber so eine Art Zweiklassengesellschaft verfestigt: jene, die Homeoffice können und dürfen – und dann halt die anderen. Das kann nicht harmonisch sein. Und außerdem strengen sich Firmen derzeit ja mächtig an, die Leute wieder ins Büro zurückzukriegen – zumindest tageweise.

Kopf: Wir merken sogar, dass Branchen, bei deren Arbeit Homeoffice einfach nicht geht, sogar verlieren gegenüber Branchen, wo es möglich ist. Wer ins Stelleninserat nicht schreibt, dass Homeoffice möglich ist, hat jetzt definitiv einen Nachteil. Aktuell ist es so, dass Arbeitgeber ihre Leute zurück ins Büro locken oder auch ganz brutal sagen: Sonst vermiete ich Fläche, und es gibt halt nur mehr Desk-Sharing. Es funktioniert derzeit beides. Es geht nicht nur darum, was die Leute wollen, es geht auch darum, welche Wirkung es hat. In Bewerbungsgesprächen sagen Junge jetzt auch, sie wollen die ersten Monate nur Homeoffice, und sagen den Unternehmen dann, dass diese in eine engere Auswahl bei ihnen kommen könnten. Also es ist jedenfalls heiß diskutiert, wer was wann darf.

Lotter: Wir brauchen einfach eine Inventur: Was haben wir bis jetzt gemacht, was geht nicht mehr, was passt, und was funktioniert nicht mehr. Es geht um positives Differenzieren für das Neue und um einen Abschied von der Vorstellung, dass alle dasselbe machen. Ein Start ins Berufsleben ausschließlich im Homeoffice ist natürlich Unsinn, ich muss die Leute kennenlernen, ich brauche die Gesichter, die Mentalitäten in physischer Begegnung. Es fehlt einfach am gegenseitigen Verständnis, was man eigentlich tut. Wir haben ja noch ein Management, das stark an Kontrollmechanismen glaubt. Aber die alten Zeiten des Gutsherrenhofes, der Fabrik, sind vorbei, Herrschaften!

Wolf Lotter sagt, dass fixe Tage im Büro für alle der falsche Ansatz sind. Es gehe um die Einsicht, dass nicht für alle dasselbe gut und passend ist. Die alte Arbeitskultur stehe infrage.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Schauen wir doch bitte mal auf die Auswirkungen des Wandels der Arbeitsorte auf die Entwicklung von Städten, auf mögliche Folgen für ländliche Regionen. Dass sich, wer kann, ins Grüne verlegt, ist ein Trend. Haben wir bald leere Bürotürme in der Stadt und enorme Preise am Land nebst Verbauung und Zersiedelung?

Lotter: Homeoffice kann dem Land helfen, indem Dörfer wiederbelebt werden. Ich komme gerade aus Salzburg, aus einer Gegend, wo alle, die eine bessere Bildung haben, weggehen. Die Leute würden aber gerne dort wohnen und arbeiten. Warum funktioniert das nicht? Weil die Infrastruktur fehlt. Die Häuser sind da, wir müssen keine Hochhäuser mehr bauen, damit alle in die Stadt ziehen können. Wo Dorfkerne so unbelebt sind, dass es traurig ist, kann man doch Gemeinschaftsbüros machen, die alte Greißlerei umbauen, dann kommt ein kleiner Supermarkt nach – und so weiter. Sinnvoll im weitergedachten Homeoffice ist ja nicht der Schreibtisch für alle daheim in der Wohnung, sondern es ist die Antwort auf die Frage: Warum soll ich zweimal die Woche in die Stadt fahren zum Arbeiten? Ich glaube, dass künftig qualifizierte Arbeit dort stattfinden kann, wo wir heute nichts haben.

Kopf: Bitte, dass die Leute in die Stadt ziehen, ist ökologisch gut. Für das Klima ist gut, wenn Menschen zusammenwohnen, nicht vereinzelt. Dass jeder in seinem Haus wohnt, ist nicht ökologisch. Homeoffice spart derzeit CO2. Aber mittelfristig? Das Ifo-Institut hat vorgerechnet, dass weniger Arbeitswege oft kompensiert werden durch längere Arbeitswege. Wenn die Leute mal ins Büro fahren, dann nicht öffentlich, sondern mit dem Auto. Dazu kommt die Flächenversiegelung. Aber ja, vielleicht erlebt die Idee von Arbeitsplatzzentren am Land eine Renaissance.

STANDARD: Dass Homeoffice bei all der Streamerei Strom spart, ist auch nicht wirklich belegt. Aber noch einmal gefragt: Bauen wir gerade eine neue Zweiklassengesellschaft? Die einen im Homeoffice, die anderen noch weiter abgehängt?

Kopf: Wir beraten derzeit über 1000 Betriebe zum Thema der neuen Organisation, der Arbeitgeberattraktivität und der Arbeitsorganisation. Ja, wir zeichnen hier ein Bild der schönen neuen Arbeitswelt – das stimmt auch alles, aber hauptsächlich im qualifizierten Bereich. Wir haben ganz viele Menschen, die können nichts verlangen, die sind für Arbeitgeber austauschbar. Wenn die Teuerung dazu führt, dass der Konsum zurückgeht und das Wachstum schwindet, dann sieht es für diese Gruppen nicht gut aus. Jeder zweite Arbeitssuchende aktuell hat nur Pflichtschulabschluss oder das Alter von 15 erreicht in der Ausbildungsgeschichte. Da sehen wir jetzt noch Arbeitslosenraten um die 20 Prozent. Wir verlieren zu viele, weil sie nicht gescheit gefördert werden – im Kindergarten, in der Volksschule. Das sind doch aber alles auch Leute, die später gerne zu ihrem Arbeitgeber sagen würden: Ich möchte gerne ein paar Tage Homeoffice machen.

Lotter: Wir haben die Entwicklung, dass viele keine Chance haben. Es ist da vielleicht nicht wirklich vernünftig, immer nach höherer akademischer Bildung zu rufen. Anständig bezahlen, das ist das Gebot der Stunde für den niedriger qualifizierten Bereich. Wir behandeln diese Leute in der berühmten Blue-Collar-Welt kläglich. Wir brauchen sie. Da muss es einen Ausgleich geben. Das gilt natürlich auch für alle Berufe, die kein Homeoffice machen können – nehmen wir die Krankenschwester, die nun einmal im Krankenhaus arbeiten muss. Oder den Busfahrer, der im Bus fahren muss. Ich hoffe sehr, dass wir das jetzt ändern. Apropos – der Mensch im Mittelpunkt. Und ich hoffe sehr, dass jetzt nicht eine Elite die andere ablösen wird. (Karin Bauer, 1.10.2022)