Dass sich hinter der in kühlem Fachlatein verfassten Pressemitteilung ein Thriller wie aus einem James Bond-Drehbuch verbirgt, hatten wohl nur eingefleischte Branchenkenner vorhergesehen: "Druck in Nord-Stream-2-Gaspipeline von Russland nach Deutschland über Nacht von 300 auf sieben Bar gefallen", meldete die Betreiberfirma am Montag kurz nach Mittag – "Grund unbekannt".

Lecks bei Nord Stream 1 – So sprudelt Gas in die Ostsee
DER STANDARD | AFP | DANISH DEFENCE COMMAND

Ein erstes Licht ins Dunkel der Ostsee, wo die beiden Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 auf einer Länge von 1200 Kilometern auf dem Meeresgrund liegen, brachte die schwedische Erdbebenwarte: "Mehrere Explosionen" hätten die Lecks nahe der dänischen Insel Bornholm in drei der insgesamt vier Stränge verursacht, hieß es. Am Donnerstag fand die schwedische Marine schließlich ein viertes Leck. Nur eines der vier stählernen und mit dickem Beton umhüllten Rohre blieb – Stand Freitag – unversehrt, jenes von Nord Stream 2.

Zwar fließt durch Nord Stream 1 schon seit Ende August kein russisches Gas mehr ins energiehungrige Deutschland – und die politisch seit jeher hochumstrittene Pipeline Nord Stream 2 ging wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine ohnehin nie ans Netz. Trotzdem lässt die Sabotage an einem Herzstück der bisherigen EU-Energiearchitektur die Staatskanzleien kurz vor dem Winter zusätzlich erschaudern.

Kreml unter Verdacht

Die Nato sprach am Donnerstag in einem Statement von "vorsätzlichen, rücksichtslosen und unverantwortlichen Sabotageakten"; Gabrielius Landsbergis, Außenminister des Ostseeanrainers Litauen, gar von einem "terroristischen Akt".

Schnell waren Fachleute mit Einschätzungen zur Hand, wer hinter den rätselhaften Explosionen in der Tiefe des Meeres stecken könnte. Für viele von ihnen führt die heißeste Spur nach Moskau. Johannes Peters etwa, ein Kieler Experte für maritime Sicherheit, hält im Gespräch mit dem STANDARD Russland für den einzigen relevanten Akteur, der sowohl "Fähigkeiten als auch Interesse" an einer Sabotage habe. Handfeste Beweise muss er freilich schuldig bleiben. Doch was spricht dafür, dass ausgerechnet Russland seine eigenen Gaslieferlinien in der Ostsee zerstört – und was dagegen?

Riesige Gasblasen zeugen von den Lecks 70 Meter unter der Meeresoberfläche.
Foto: APA/AFP/Airbus DS 2022/HANDOUT

Was dafür spricht

Dass die russische Armee all ihrer Probleme in der Ukraine zum Trotz nach wie vor über die nötigen Ressourcen für eine solche Operation verfügt, steht außer Zweifel. Im Arsenal von Wladimir Putins Marine finden sich geeignete Drohnen und Mini-U-Boote ebenso wie hochspezialisierte Kampftaucher, die relativ einfach Sprengsätze an den Pipelines anbringen könnten.

Doch hat der Kreml tatsächlich Interesse an der Zerstörung von Leitungen, die überwiegend vom Staatskonzern Gazprom kontrolliert werden? Ja, sagt Peters. Moskau wollte mit der Sprengung der Nord-Stream-Rohre ein "starkes Signal" an den Westen aussenden. Einerseits könnte man damit demonstrieren, dass man auch tief im Nato-Gebiet kritische Infrastruktur anzugreifen in der Lage ist; nicht zuletzt die neue Gaspipeline von Norwegen nach Polen, die ebenfalls durch die Ostsee führt. Aber auch wichtige Datenkabel, etwa für Telefonie und Internet, sind dann verwundbar.

Anderseits sieht Peters in der mutmaßlichen Sabotage einen Akt psychologischer Kriegsführung – Ziel: Berlin. Weil eines der vier Rohre technisch nach wie vor betriebsbereit ist, wähnt Russlands Präsident genau darin ein Ass in seinem Ärmel: Sollte der Druck von der Straße auf die deutsche Regierung im Winter steigen, könnte er anbieten, Gas über die verbliebene Nord-Stream-2-Leitung zu liefern – dafür müsste Deutschland aber aus dem westlichen Sanktionsregime ausscheren.

Ein weiterer möglicher Nutzen: Wird Moskau nach Abschluss der Ermittlungen, die erst beginnen können, sobald kein Gas mehr ausströmt, keine Täterschaft nachgewiesen, könnte Gazprom nicht auf Schadensersatz verklagt werden, wenn es seine Lieferverträge nicht erfüllt. Denkbar scheint auch, dass Putin Fakten schaffen wollte: Sollte er stürzen, kann auch sein Nachfolger den Gashahn nicht einfach so wieder aufdrehen – verbrannte Erde auf dem Meeresgrund.

Was dagegen spricht

Russell Johns von der Penn State University in den USA hält Russland als Täter für unwahrscheinlich – schließlich könne der Kreml die Gaslieferungen auch einfach so stoppen, ohne Rohre zu zerstören.

Theoretisch hätten zudem auch andere Akteure ein Interesse an einem dauerhaften Aus für Nord Stream: Gas aus Russland könnte dann nur mehr via Polen und die Ukraine in Richtung EU fließen. Plausibel erscheint eine ukrainische Hauptrolle in dem Krimi aber schon deshalb nicht, weil Kiew damit auch den Westen verärgern würde.

Die russische Propaganda schießt sich derweil ganz auf Washington ein: Einerseits will man in der fraglichen Zeit U.S.-Navy-Hubschrauber in der Gegend geortet haben; anderseits verdienten die USA an Europas Gasengpass derzeit mehr denn je. Auch ein Zitat Joe Bidens aus dem Frühjahr, wonach die USA Nord Stream jederzeit stoppen könnten, sollte Russland die Ukraine überfallen, wird ins Treffen geführt.

Warum die USA eine Pipeline mitten in der EU sprengen sollten, in der ohnehin kein Gas fließt, lässt Putins PR aber im Dunklen.(Florian Niederndorfer, 30.9.2022)