Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnete am Freitag die Dokumente zur Annexion von vier ukrainischen Regionen.

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Größer könnte der Kontrast nicht sein: Im Großen Kremlpalast warten an diesem Freitagnachmittag die Menschen auf die von Sprecher Dmitri Peskow angekündigte "umfangreiche Rede" des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Rote Platz in Moskau wurde für diesen Anlass geschmückt und zahlreiche Videowände und Banner mit der Aufschrift "Luhansk, Donezk, Saporischschja, Cherson, Russland. Gemeinsam für immer!" aufgestellt.

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Auch auf dem Stadtplatz von Isjum in der Ukraine warten die Menschen am Nachmittag. Allerdings auf Hilfslieferungen, die vielleicht noch an ebendiesem Tag kommen sollen. In Isjum, jener fast vollständig zerbombten Kleinstadt, aus der sich vor kurzem die russischen Truppen zurückgezogen haben, gibt es keinen Strom, kein Gas, kein Wasser, die Geschäfte haben zu. Es gibt nichts – außer zerstörten Häusern und Panzerwracks, den Überresten der vergangenen Kämpfe.

Gespenstische Ruhe in Moskau

Isjum, dort, wo nun ukrainische Soldaten stationiert sind, liegt im Gebiet Charkiw, das unmittelbar an Donezk und Luhansk angrenzt. Geht es nach Russland, verläuft hier in Zukunft die Staatsgrenze. Frieden bedeutet das sicher nicht. Der 61-jährige Oleksandr befürchtet, dass die Kämpfe noch lange weitergehen werden. "Ich glaube nicht, dass die Russen es wieder bis hierhin schaffen, dass die Ukrainer sie durchlassen. Es kann aber Raketenangriffe und Artillerieschläge geben, das ist eher wahrscheinlich. Dann werden wir gezwungen sein, den ganzen Winter im Keller auszuharren." Und der 34-jährige Valeriy ergänzt: "Eigentlich ist es mir egal, ob sie wiederkommen oder nicht. Aber wir wollen in der Ukraine sein, denn vonseiten Russlands haben wir nichts Gutes bekommen."

"Unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine sind Teil unseres Volkes." Wladimir Putin

In Moskau gleicht die Innenstadt einer Festung. Alles ist mit Metallgittern abgesperrt. Überall stehen Hundertschaften von Uniformierten, die Nationalgarde und Gefangenentransporter. Die Innenstadt ist gespenstisch leer, als Wladimir Putin mit seiner Rede beginnt. Russland habe nun vier neue Regionen, sagt er und kündigt an, "Verträge" mit den zuvor als unabhängig anerkannten Staaten zu unterzeichnen. "Unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine sind Teil unseres Volkes." Kiew fordert er auf, den Willen der Menschen zu respektieren, militärische Handlungen einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Und Putin fügt hinzu: "Wir werden unser Land mit allen Mitteln verteidigen."

Stockende Teilmobilmachung

Das russische Verteidigungsministerium lässt hunderttausende Reservisten einziehen, die die besetzten Gebiete in der Ukraine halten sollen. Die von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnte Mobilmachung hat die größten Antikriegsproteste seit Monaten ausgelöst. Es gab Brandanschläge auf Einberufungsstellen. Hunderttausende Russen haben das Land inzwischen verlassen.

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International wird die Annexion der besetzten Gebiete nicht anerkannt. "Die Scheinreferenden des Kreml sind ein sinnloser Versuch zu verschleiern, was ein weiterer Versuch des Landraubs in der Ukraine ist", so US-Außenminister Antony Blinken. Die "Aufnahme" der okkupierten Gebiete in Russland sei "eine illegale Annexion, die wir nie akzeptieren können", betont auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Für Aufsehen sorgte am Freitagnachmittag die Reaktion des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: Er kündigte einen Antrag für eine beschleunigte Aufnahme in die Nato an, den er sogleich stellte. Gleichzeitig bezeichnete er Verhandlungen mit Russland als möglich – allerdings mit einem anderen Präsidenten als Putin.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach daraufhin der Ukraine die Unterstützung des Verteidigungsbündnisse aus – über eine Mitgliedschaft müssten jedoch alle 30 Mitglieder per Konsens entscheiden. Russlands illegaler Landraub käme der wohl gravierendsten Eskalation seit Kriegsbeginn gleich, befand Stoltenberg – die Nato-Verbündeten würden geschlossen die annektierten Gebiete nicht als Teil Russlands anerkennen. Es gelte der Ukraine umgehenden Beistand zu leisten. Ein Sieg Russlands wäre eine Katastrophe für die Ukraine – "und für uns sehr gefährlich", sagte Stoltenberg am Freitagabend.

Gemischtes Bild

99 Prozent Zustimmung in Donezk, 98 Prozent in Luhansk, 93 Prozent in Saporischschja und im südlichen Cherson mehr als 87 Prozent – dieses Ergebnis war zu erwarten angesichts russischer Soldaten, die mit durchsichtigen Urnen von Haustür zu Haustür gingen. Doch zu vermuten ist, dass auch bei einem ehrlichen Referendum unter internationaler Kontrolle viele der zumeist russischstämmigen Menschen in den besetzten Gebieten für den Anschluss an Russland gestimmt hätten. Diejenigen, die nicht geflohen sind, wollen vor allem eines: in Frieden leben, egal unter welcher Flagge.

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In den sozialen Netzwerken ist das Bild durchaus unterschiedlich. Mischa aus Donezk etwa jubelt: "Die Ukraine ist in der Vergangenheit! Das neue Russland ist die Zukunft!" Aleksandr meint: "Die ukrainische Macht hat Cherson in eine Notlage gebracht. Es gibt überhaupt nichts da draußen, ein Ödland! Ich will eine Entwicklung wie auf der Krim, ich will ein gutes Leben."

Die Angst regiert

Walentina hingegen befürchtet: "Es wird mehr geschossen, es werden mehr Raketen fliegen, und es wird mehr Todesfälle unter den Zivilisten geben." Mikhail erzählt: "Viele verstecken sich, viele haben Angst, überhaupt etwas zu sagen, obwohl es Ausnahmen gibt. Mein Freund und mehrere seiner Kollegen kündigten ihre Arbeit, nachdem sie gezwungen worden waren, Fotos zur Unterstützung des Referendums zu machen."

Natürlich sind all diese Kommentare mit Vorsicht zu betrachten. Auf ihre Echtheit überprüfbar sind sie nicht. In Isjum jedenfalls haben die meisten Menschen andere Sorgen als die Frage, zu welchem Staat sie gehören wollen. (Jo Angerer aus Isjum, red, 30.9.2022)