Der Missbrauchsfall rund um einen Wiener Lehrer zieht immer weitere Kreise.

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Wien – Am Samstag haben sich Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) und Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) zu dem Missbrauchsfall an einer Wiener Mittelschule zu Wort gemeldet, über den der STANDARD jüngst berichtet hatte. Die über Jahre erfolgten sexuellen Übergriffe auf großteils unmündige Buben durch einen Sportlehrer, der möglicherweise zwei Mittäter hatte, "zeigt ein erschütterndes Systemversagen aller befassten Wiener Behörden", stellte Raab fest.

Raab kritisiert Wiener Bildungsdirektion

"Wie kann es sein, dass bereits vor vielen Jahren Anzeige erstattet wurde, aber es zu keinen Ermittlungen kam? Wie kann es sein, dass die Wiener Bildungsdirektion schon Jahre davon wusste, aber nicht für vollständige Aufklärung sorgte und der beschuldigte Lehrer weiterhin in Sportvereinen und Feriencamps tätig sein konnte?", fragte sich Raab in einer Presseaussendung. Sie forderte "hundertprozentige Aufklärung und strengere Gesetze, wenn es darum geht, wer unsere Kinder betreut". Noch immer sei es verurteilten Sexualstraftätern möglich, in der Kinderbetreuung und in Feriencamps tätig sein: "Das ist nicht nur absurd, sondern auch gefährlich."

"Bei sexuellen Übergriffen darf es null Toleranz geben. Die aktuell fortlaufende Aufklärung bringt immer mehr mutmaßliche Missbrauchsfälle in Wien ans Tageslicht und belegt offenbar ein Systemversagen in der Bundeshauptstadt", hielt Bildungsminister Polaschek fest. Es sei ihm ein "persönliches Anliegen", Kinder vor jeglicher Art von Übergriffen zu schützen: "Aus diesem Grund müssen der Schutz der Kinder und die volle Aufklärung dieser mutmaßlichen Taten absolute Priorität haben."

Er verwies darauf, dass man in der Vergangenheit mit vielen Partnern umfassende Maßnahmen zur Missbrauchsprävention in Bildungseinrichtungen gesetzt habe, von speziellen Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer bis hin zu pädagogischen Unterrichtsmaterialien und Unterstützung der Lehrkräfte durch Schulpsychologie und psychosoziales Unterstützungsmaterial. "Wir werden in Zukunft auch weiterhin alles unternehmen, um sexuelle Übergriffe präventiv zu verhindern und uns mit aller Konsequenz gegen jegliche Form von Missbrauch stellen", kündigte Polaschek an.

Untersuchungen bis ins Jahr 1996

Der Fall um den Sportlehrer, der nun von einer von der Wiener Bildungsdirektion bis ins Jahr 1996 zurückreichend untersucht wird, beschränkt sich allerdings nicht auf die Bundeshauptstadt. Der Pädagoge, der im Frühjahr 2019 Suizid beging, nachdem ihn ein ehemaliger Schüler angezeigt hatte und bei einer Hausdurchsuchung umfangreiches kinderpornografisches Material sichergestellt worden war, war während der Sommermonate 20 Jahre lang als Betreuer in einem Feriencamp für Kinder und Jugendliche am Wolfgangsee tätig. Auch dabei dürfte es zu Übergriffen gekommen sein – ein ehemaliger Teilnehmer hatte den Sportlehrer bereits 2013 angezeigt, doch dessen Anzeige "versandete", obwohl der Pädagoge vom Landeskriminalamt Niederösterreich als Beschuldigter vernommen worden war.

Der Sportlehrer konnte daher unbehelligt seine Tätigkeit in einem Wiener Sportverein fortsetzen, wo er eine führende Funktion bekleidete und es ebenfalls zu Übergriffen auf unmündige Buben oder minderjährige Burschen gekommen sein könnte.

Eine Opfer-Anwältin hatte am vergangenen Montag im Zusammenhang damit eine Sachverhaltsdarstellung gegen zwei enge Bekannte respektive Freunde des Sportlehrers eingebracht, die im Verein als Basketball-Trainer beziehungsweise als Betreuer in anderen Sportarten fungierten. Der Jüngere der beiden war erst im vergangenen Dezember zum Vize-Präsidenten gewählt worden. Die Sportunion enthob ihn als übergeordneter Dachverband nach Bekanntwerden der Vorwürfe bis auf weiteres aller Funktionen. Der Basketball-Trainer war schon seit längerem nicht mehr im Verein und dürfte überhaupt seit Mitte 2019 aus der Basketball-Szene verschwunden sein, nachdem der Wiener Basketballverband (WBV) erfahren hatte, dass der Mann seinen jungen Sportlern wiederholt körperlich zu nahe gekommen war und das der Wiener Polizei gemeldet hatte.

Lehrer bei weiterem Verein tätig

Am Wochenende hat sich zudem bestätigt, dass der Mann bei einem zweiten Wiener Sportverein tätig war. Während er in einem Club der Sportunion eine leitende Funktion inne hatte, war er zugleich als Basketball-Trainer bei einem zweiten, einem anderen Verband unterstehenden Verein im Einsatz.

Zusätzlich war der verstorbene Sportlehrer parallel zum einen Verein "zwei bis drei Jahre bei uns als Basketball-Trainer tätig", wie der Präsident des zweiten Vereins am Samstag der APA bestätigte. Gekommen sei es dazu im Zuge einer Kooperation mit der Mittelschule, wo der Pädagoge seit 1996 beschäftigt war. Der Sportlehrer habe die U10-Mannschaft der Buben betreut, sagte der Vereinspräsident.

Pädagoge war bei Basketball-Camp

Bei uns gibt es zum Glück keine betroffenen Kinder", betonte der Präsident. Im Zuge der von einem ehemaligen Schüler des Sportlehrers losgetretenen Ermittlungen – dieser hatte den Pädagogen im April 2019 anzeigt – sei der Verein vom Dachverband und dem Wiener Basketballverband (WBV) unter Einbindung zweier Kinder- und Jugendschutzorganisationen eingehend geprüft worden. Auffälligkeiten oder gar Übergriffe seien dabei nicht zutage gekommen. Der Präsident führte dies darauf zurück, dass die Trainings seit jeher stets von zwei Personen geleitet würden: "Er war nie alleine mit den Kids. Es war immer ein zweiter Trainer dabei." Zum anderen hätte sich Medienberichten zufolge das Interesse des Pädagogen offenbar auf ältere Buben konzentriert.

Fest steht, dass der Pädagoge gemeinsam mit dem nun mitverdächtigen Ex-Lehrer auch im Trainerstab eines mehrtägigen Basketball-Camps war, das Anfang Juli 2017 in Wien stattfand. Der damalige Leiter des Camps versicherte am Samstag auf APA-Anfrage, es sei seinerzeit zu keinen Vorkommnissen gekommen. Das habe man "wirklich eingehend überprüft". (APA, red, 1.10.2022)