Othmar Karas traf in Kiew auch Vitali Klitschko, den Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt.

Foto: Daniela Prugger

Es ist ein sonniger Tag in Kiew, doch für Spaziergänge bleibt keine Zeit. Othmar Karas, erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments, ist am Freitag gemeinsam mit anderen europäischen Parlamentariern nur für wenige Stunden in die ukrainische Hauptstadt gekommen. Fotografiert werden die zerstörten russischen Panzer, die auf Plätzen in der Innenstadt ausgestellt wurden, deshalb nur durch die abgedunkelten Scheiben des Autos hindurch, auf den vielen kurzen Fahrten zwischen den von Soldaten bewachten Regierungsgebäuden, in denen die Treffen mit ukrainischen Politikern stattfinden.

STANDARD: Sie haben am Freitag einen historischen Tag in der Ukraine miterlebt: Nachdem Wladimir Putin die Annexion weiterer Gebiete in der Ukraine verkündet hat, hat die Ukraine einen "beschleunigten" Antrag auf den Beitritt zur Nato gestellt. Wie sehr hat Sie das Vorgehen Wolodymyr Selenskyjs überrascht?

Karas: Es war für mich klar, dass es nach der Rede Putins, die als nächste Eskalationsstufe anzusehen ist, eine Reaktion geben wird. Und in der Ukraine hat man diesen Moment als "window of opportunity" empfunden. Denn bis zur Stunde war ja völlig klar, dass die Ukraine nicht Nato-Mitglied werden soll. Zum einen, damit die Lage nicht weiter eskaliert, und zum anderen, weil es zu keinem Zusammentreffen von russischen und Nato-Truppen kommen soll. Doch mittlerweile ist klar, dass sich Putin an keinen Vertrag, an keine Regeln, an kein Völkerrecht hält. Er eskaliert von Tag zu Tag weiter: mit dem Angriffskrieg, mit der Drohung der Atombombe, mit der Abhaltung der illegalen Referenden, der Besetzung ukrainischer Gebiete. Er hört nicht auf. Und die Ukraine benötigt deshalb Sicherheitsgarantien. Der Antrag auf den Beitritt zur Nato war ein politisches Signal, aber in naher Zukunft wird es wohl nicht dazu kommen.

STANDARD: Sie zeigen sich skeptisch, was einen Nato-Beitritt angeht. Dass die Ukraine in diesem Jahr den EU-Kandidatenstatus erhalten hat, hat viele Menschen ebenfalls überrascht.

Karas: Die Ukraine hat diesen Beitrittsantrag gestellt, weil sie im Krieg ist und angegriffen wird. Sie verteidigt die europäischen Werte und die Menschen dort haben sich entschieden, auf der Seite des Friedens, der Demokratie, der Freiheit, des Parlamentarismus und des Rechtsstaates zu stehen. Auf der anderen Seite haben wir Putin, der das Rad der Geschichte mit militärischen Mitteln und mit Gewalt zurückdrehen will und vor keiner Souveränität Halt macht. Wer der demokratischen Wertegemeinschaft angehören will, ist in der Europäischen Union am besten aufgehoben.

STANDARD: Wann könnte es so weit sein mit einem Beitritt?

Karas: Das hängt davon ab, wann die Voraussetzungen erfüllt werden. Wir haben mit den Verhandlungen ja noch gar nicht begonnen. Und gerade jetzt sollten wir nicht mit dem letzten Schritt beginnen, denn die Ukraine befindet sich noch immer im Krieg. Gerade ist Frieden das oberste Ziel, dann kommt der Wiederaufbau. Es geht um die europäischen Standards in der Demokratie, in der Korruptionsbekämpfung, im Rechtsstaat, im Pluralismus, im Minderheitenschutz. Das ist ein Prozess, aber dieser Prozess gibt eine Richtung vor. Die Ukraine hat sehr viele Baustellen zur gleichen Zeit zu erfüllen. Aber ich habe hier durch meine Gespräche deutlich gesehen, dass dieses Land den gemeinsamen Willen hat, das Land mit Reformen wiederaufzubauen. Die Menschen dieses Landes verdienen eine Verschärfung der Sanktionen gegenüber Russland. Wer in einer solchen Situation die Sanktionen infrage stellt oder deren Beendigung fordert, betreibt Putins Spiel und unterstützt seinen Krieg.

STANDARD: Jetzt ist es in den Gesprächen, die Sie heute geführt haben, ja auch sehr oft darum gegangen, dass man aus den Fehlern in der Vergangenheit lernt. Sie waren einer der Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments im Jahr 2014, als die Krim annektiert wurde. Am Freitag hat Putin wieder die Annexion von ukrainischen Gebieten verkündet. Welche Fehler hat denn Europa damals gemacht, und was hat man daraus gelernt?

Karas: Wir haben auch damals, im Jahr 2014, Sanktionen und dann das Minsker Übereinkommen entwickelt. Und wir haben die OSZE eingeschaltet. Aber was wir schmerzlich gelernt haben – und was ich persönlich nie geglaubt habe –, ist, dass Putin alle geltenden Verträge bricht und wir ihm nicht mehr vertrauen können. Er hat jegliches Vertrauen verspielt. Und daher kommt es immer mehr zu einer System-Auseinandersetzung. Die Europäische Union hat sich seit 2014 weiterentwickelt: Allein die Annahme des ukrainischen Beitrittsansuchens und die Sanktionspakete und Unterstützungsmaßnahmen, die beschlossen wurden, sind historisch. Langfristig muss es dazu kommen, dass kein Euro mehr in das Kriegsbudget von Wladimir Putin fließt. Wir wissen heute, dass wir unsere Abhängigkeit gegenüber nichtdemokratischen Systemen reduzieren müssen. Nicht nur, was die Energie, sondern auch was die Nahrungsmittelsicherheit betrifft. Und wir benötigen eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Daher trete ich so massiv dafür ein, dass die 200 Milliarden Euro, die die Mitgliedstaaten beabsichtigen, für ihre Landesverteidigung auszugeben, nach einem gemeinsamen Konzept auszugeben werden.

STANDARD: Sie sagen, dass sich Europa unabhängig von nichtdemokratischen Ländern machen muss, vor allem in der Energieversorgung. Trotzdem hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Sommer eine Verdopplung der Gasimporte mit Aserbaidschan vereinbart. Mitte September hat Aserbaidschan zum ersten Mal Städte innerhalb Armeniens angegriffen. Haben Sie nicht Sorge, dass es auch deshalb, weil sich der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijew abgesichert fühlt, zu einem weiteren Krieg im Kaukasus kommen könnte?

Karas: Das alles macht mir große Sorgen, das steht außer Streit. Wir sind ja nur glaubwürdig bei den Sanktionen gegen Russland und bei der Verteidigung von Recht und Werten, wenn wir sie nach innen wie nach außen vertreten. Die Maßnahmen, die wir jetzt gesetzt haben, sind ja nur Übergangsregelungen zu der Erfüllung des gemeinsamen Ziels, klimaneutral und autark in der die Energieversorgung zu werden. Aber wir benötigen dafür eine ausreichende europäische Energie-Infrastruktur. Wir haben es immerhin schon geschafft, dass wir die Energie-Abhängigkeit von Russland auf neun Prozent reduziert und die Speicherkapazität in Europa auf 90 Prozent erhöht haben. Das alles beschleunigt unseren Kampf gegen den Klimawandel. Ich weiß nicht, ob es diese Dynamik ohne den Krieg gegeben hätte.

STANDARD: Würden sie das Abkommen zwischen Aserbaidschan und der EU als Fehler bezeichnen?

Karas: Unsere oberste Priorität ist die Versorgungssicherheit in Europa. Und solange wir Lücken bei uns selbst haben, gehen wir in vielen Bereichen in Verträge, die wir sonst nie gemacht hätten. Dass wir sowohl am Golf als auch in Aserbaidschan versuchen, Gas und Öl einzukaufen, ist eine Zwischenlösung, die nicht zur Dauerlösung werden darf. Dass wir uns in die Abhängigkeit von Russland begeben haben, war der Fehler, und jetzt geht es darum, sich beschleunigt davon zu befreien.

STANDARD: Politikern, die nach Kiew reisen, wird ja hin und wieder unterstellt, dass diese Besuche nur aufgrund der Symbolik abgehalten werden. Es gehe vor allem um die Fotos, heißt es oft. Für wie wichtig halten Sie es denn, dass Politiker hierher nach Kiew kommen?

Karas: Das mit der Symbolik ist sicher auf beiden Seiten richtig. Es ist gewollt von den Politikern in der Ukraine, um der eigenen Bevölkerung zu zeigen, dass das Land nicht allein dasteht. Aber für uns ist jedes persönliche Gespräch wichtig. Das Schlimmste ist verloren gegangenes Vertrauen und der Verlust von Glaubwürdigkeit. Und daher geht es mir eigentlich darum, dass wir ernsthaft bleiben und die Abkommen und Versprechen, die wir geben, einhalten.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass die Menschen in der Ukraine der EU mehr vertrauen als die Bewohner der EU-Länder?

Karas: Ich glaube, das ist immer eine Frage der Ausgangsposition – und da gibt es wahrscheinlich niemanden, der es momentan schwieriger hat als die Ukrainerinnen und Ukrainer. Ich habe schon den Eindruck, dass die Menschen hier der Europäischen Union vertrauen und Hoffnung in die westlichen Bündnisse Hoffnung setzen. Diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen. Aber es müssen Voraussetzungen erfüllt werden, wenn wir über den EU-Beitritt sprechen. Das ist kein Brief ans Christkind, sondern ein Bemühen darum, sich an EU-Standards anzugleichen, um Teil unserer Gemeinschaft zu werden. (Daniela Prugger aus Kiew, 2.10.2022)