Ein ukrainischer Soldat entfernte am Wochenende in der Stadt Lyman die Flagge der prorussischen Volksrepublik Donezk.

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Die ukrainische Flagge weht wieder in Lyman. Am Sonntag verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die vollständige Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt in der ostukrainischen Region Donezk. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte bereits am Samstag den Rückzug russischer Truppen erklärt – wegen drohender Einkesselung.

Ein schwerer Rückschlag für Russlands Präsident Wladimir Putin: Neben der Tatsache, dass Fachleute in Lyman einen wichtigen Stationierungspunkt vieler russischer Soldaten sahen, hatte Putin erst am Freitag mit Pomp und Parade die Annexion von Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson erklärt – die allerdings international nicht anerkannt und vom Westen als völkerrechtswidrig eingestuft wird. Kiew ist nun ein militärischer Erfolg in einer Stadt gelungen, die in diesen von Russland beanspruchten Gebieten liegt.

Scheinreferenden

Am Freitag hatte Russland wie erwartet mit einem Veto im UN-Sicherheitsrat die Verabschiedung einer Resolution verhindert, mit der die Annexion als Völkerrechtsbruch verurteilt werden sollte. China, Indien, Brasilien und Gabun hatten sich bei der Abstimmung enthalten. Mehrere EU-Staaten haben in einer koordinierten Aktion die jeweiligen russischen Botschafter ins Außenministerium zitiert. So muss auch der russische Missionschef in Wien, Dmitrij Ljubinskij, am Montagvormittag im Außenministerium vorstellig werden.

Mit der Annexion – die Moskau nach der Abhaltung von Scheinreferenden erklärt hatte – hatte die russische Führung deutlich gemacht, dass sie Angriffe auf diese Regionen künftig als Angriffe auf russisches Territorium betrachten werde. Für diesen Fall war auch der Einsatz strategischer Atomwaffen nicht ausgeschlossen worden. "Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen. Dies ist kein Bluff", hatte Putin etwa bei seiner Ankündigung zur Teilmobilmachung am 21. September gesagt.

In diese Richtung drängt nun offenbar Ramsan Kadyrow: Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien kritisierte am Samstag russische Kommandanten für den Abzug aus Lyman. "Meiner Meinung nach sollten drastischere Maßnahmen ergriffen werden, bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzregionen und dem Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft."

Nicht nur bei Kadyrow, auch in russischen Regierungskreisen hat der Rückzug aus Lyman Kritik an der Militärführung ausgelöst, wie es vonseiten britischer Geheimdienste am Sonntag hieß. Weitere Niederlagen in den annektierten Gebieten könnten demnach den Druck auf hochrangige Kommandanten erhöhen. Beim Rückzug aus Lyman soll die russische Armee zudem britischen Angaben zufolge hohe Verluste erlitten haben.

Vermittlungsversuche

Internationale Appelle, Ankündigungen und Aufforderungen rund um den Ukraine-Krieg wurden auch am Wochenende wieder laut: Papst Franziskus bezeichnete es am Sonntag als "absurd", dass die Welt wegen des Kriegs in der Ukraine mit einer atomaren Bedrohung konfrontiert sei. An Putin gerichtet sagte Franziskus, dieser solle die "Spirale der Gewalt und des Todes" aus "Liebe für sein eigenes Volk" beenden. Und der Papst forderte eine sofortige Waffenruhe in der Ukraine.

Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, kündigte am Samstag an, kommende Woche Moskau und Kiew besuchen zu wollen, um Gespräche über die Einrichtung einer Schutzzone rund um das von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja zu führen. Am Wochenende sorgte die Meldung für Aufsehen, dass russische Soldaten den Direktor des Atomkraftwerks, Ihor Muraschow, für "Befragungen" festgenommen hätten. (maa, APA, 2.10.2022)