Eine Tagung am 10. Oktober im Grazer Meerscheinschlössl wirft Licht auf den sogenannten Liebenauer Prozess.

Foto: LBI für Kriegsfolgenforschung

Während der NS-Zeit existierten in Graz zahlreiche Lager für ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. In Liebenau stand eines der größten: Das 1940 ursprünglich für umgesiedelte Volksdeutsche errichtete "Lager V". Zwischen 1942 und 1945 wurden dort in rund 190 Holzbaracken Tausende Menschen untergebracht. Zwischen 1943 bis Kriegsende starben im Lager etwa 70 ausländische Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, Frankreich und Italien. Auch Selbstmorde und Hinrichtungen waren darunter.

Im März 1945 wurden bei Bombardements einige der Baracken zerstört. Nach der Befreiung der Kriegsgefangenen im Frühjahr 1945 diente die Einrichtung als Flüchtlingslager. Im Mai 1947 ließ die britische Besatzungsmacht am Gelände des ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlagers Liebenau Exhumierungsarbeiten durchführen: Die sterblichen Überreste von 53 Menschen – bei 35 mit tödlichen Schusswunden – wurden gefunden, weitere dürften unter der Erde geblieben sein. Vier Monate später startete ein Prozess gegen Mitglieder des Lagerpersonals am Grazer Straflandesgericht. Eine Grazer Tagung wirft am 10. Oktober Licht auf den sogenannten Liebenauer Prozess.

Massenerschießungen

Das NS-Zwangsarbeiterlager Liebenau war im April 1945 eine Zwischenstation von 5.000 bis 6.000 ungarischen Jüdinnen und Juden auf ihren Todesmärschen vom "Südostwall" in Richtung KZ Mauthausen. Mindestens 35 wurden erschossen und in Massengräbern verscharrt. Weitere starben an verweigerter medizinischer Versorgung und mangelnder Verpflegung, wie die britischen Untersuchungen ergaben. Die Überlebenden wurden über Leoben, Trofaiach, Eisenerz und Steyr weiter ins KZ Mauthausen getrieben. Am Präbichl in Richtung Eisenerz wurden nochmals an die 200 Menschen erschossen, auch auf dem Weitermarsch nach Mauthausen kam es zu weiteren Erschießungen.

Laut Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin an der Uni Graz, zählen die Erschießungen und unmenschlichen Behandlungen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges zu den dunkelsten der Grazer Zeitgeschichte. "Das Lager Liebenau war für die durchziehenden Kolonnen ungarischer Juden im April 1945 zweifellos ein Ort des Schreckens", erklärte sie. Hier habe sich die der NS-Ideologie innewohnende Verachtung für als minderwertig eingestuftes Leben deutlich gezeigt, wie auch der Vernichtungsgedanke des Regimes. Sie lädt gemeinsam mit den Instituten für Zeitgeschichte der Uni Graz und Uni Wien zur Tagung "Holocaust vor der Haustür – 75 Jahre Liebenauer Prozess" ein.

Prozess gegen Lagerpersonal

Am 8. September 1947 begann im großen Schwurgerichtssaal des Grazer Straflandesgerichtes der Prozess gegen vier Mitglieder des Lagerpersonals: den Lagerleiter, den einstigen Lagerführer und dessen Vorgänger sowie den Lagerpolizist. Sie waren der Misshandlung bzw. Tötung von ungarischen Juden und ausländischen Zwangsarbeitern im Liebenauer Lager angeklagt. Von "geradezu unmenschlichen Quälereien und menschenunwürdiger Behandlung" sprach der britische Staatsanwalt in seiner einstündigen Anklagerede.

Am Ende standen zwei Todesurteile, eine Haftstrafe und ein Freispruch. Gegen mutmaßliche Mörder aus den Reihen der Gestapo oder der Wachmannschaft wurde weder ermittelt, noch wurden sie zur Rechenschaft gezogen. "Obwohl der Prozess medial riesengroßes Interesse hervorgerufen hat, sind das Lager, die einstigen Geschehnisse und vor allem auch die Opfer für Jahrzehnte in Vergessenheit geraten", konstatierte Stelzl-Marx.

75. Jahrestages des Liebenauer Prozesses

Anlässlich des 75. Jahrestages des Liebenauer Prozesses wird am 10. Oktober in der Tagung im Grazer Meerscheinschlössl an die Vorkommnisse erinnert und die Todesmärsche ungarischer Juden im Spiegel von Nachkriegsjustiz und Erinnerungskultur neu beleuchtet. Das Forschungsinteresse richtet sich auch auf die nachfolgende Generation der Täter: "Erstmals werden Nachkommen der zum Tode verurteilten Täter über die Rolle ihrer Großväter, über die innerfamiliäre Auseinandersetzung und das Schweigen in den Familien und darüber hinaus sprechen", kündigte Stelzl-Marx an. (red, APA, 3.10.2022)