Die Inflation ging in der Schweiz zuletzt auf 3,2 Prozent zurück.

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Auch die Schweizerinnen und Schweizer stöhnen unter den höchsten Inflationsraten seit Jahrzehnten. Im Gegensatz zu Österreich jammern die Eidgenossen aber auf hohem Niveau – oder besser gesagt: auf niedrigem. Die Teuerungsrate lag im August nicht bei neun bis zehn Prozent, so wie in vielen EU-Ländern, sondern bei schlanken 3,5 Prozent.

Im September ging die Inflation sogar zurück: Wie das Schweizer Bundesamt für Statistik (BFS) am Montag mitteilte, sind die Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahr nur noch um 3,3 Prozent gestiegen. Wie kann das sein in einem Land, das zwar nicht Teil der EU, aber eng mit dem europäischen Markt verwoben ist?

Mehrere Gründe

Der aktuelle Rückgang überraschte auch Schweizer Ökonominnen und Ökonomen, die mit einer Stabilisierung oder einem weiteren Anstieg gerechnet hatten. Das BFS führt die sinkende Inflation vor allem auf niedrigere Ölpreise zurück. In der Schweiz macht sich das schneller bemerkbar als in Österreich, weil die Inflation insgesamt moderater ist – und das aus mehreren Gründen.

So profitiert das Land etwa vom Schweizer Franken, der im Vergleich zu anderen Währungen an Wert gewonnen hat. Die Preise für Lebensmittel sind zudem weniger stark vom Weltmarkt abhängig. Dazu kommt, dass der Großteil des Stroms mit Wasser- und Atomkraft produziert wird und andere Energieformen wie Erdöl oder Gas im Schweizer Warenkorb einen geringeren Anteil als in Österreich ausmachen.

1. Starke Währung und billige Importe

Die Schweiz profitiert in Sachen Inflation vor allem vom Schweizer Franken, der im Vergleich zu anderen Währungen laufend an Wert gewinnt. Laut Klaus Weyerstraß, Sprecher für Internationale Konjunktur und Außenwirtschaft am Institut für Höhere Studien (IHS), dämpft der starke Franken die Importpreise für Unternehmen und Haushalte.

Das bedeutet: Produkte aus dem Ausland, die etwa im vergleichsweise schwachen Euro gehandelt werden, sind für die Schweizerinnen und Schweizer billiger. So können etwa steigende Kosten von Energie- oder Lebensmittelimporten zum Teil abgefedert werden. Gerade diese Importgüter sind es aber, die die Inflation in anderen europäischen Ländern anheizen.

Die hohen Teuerungsraten in den EU und den USA verstärken diesen Trend nun zusätzlich: In wirtschaftlich unsicheren Zeiten flüchten viele Anlegerinnen und Anleger in sichere Währungen und legen ihre Ersparnisse in der Schweiz an, was den Franken weiter aufwertet. Seit Mitte des letzten Jahres hat die Währung gegenüber dem Euro um circa zehn Prozent an Wert gewonnen.

2. Hohes Preisniveau und Zölle

Dass etwa die Lebensmittelpreise in der Schweiz bisher kaum gestiegen sind, liegt auch an Einfuhrbestimmungen. Um Bauern vor billigerer Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen, hat der Staat hohe Zölle festgesetzt. Die Schweiz hat diese Möglichkeit, weil sie nicht Teil des EU-Binnenmarkts ist. "In diesem Fall ist es einmal ein Vorteil, dass die Schweiz nicht EU-Mitglied ist", erklärt Yngve Abrahamsen, Ökonom an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, im Gespräch mit dem STANDARD.

Aufgrund der Zölle sind die Preise zwar allgemein höher, das Preisniveau kann dadurch aber stabilisiert werden. Möglich ist das über eine Anpassung der Zölle. "Die Abgaben wurden zum Teil reduziert, sodass bestimmte Preise sinken oder es zumindest nicht zu Anstiegen kommt", sagt Abrahamsen.

3. Geringerer Energieanteil im Warenkorb

Auch in der Schweiz sind die Kosten für Energie gestiegen, der Anteil der Ausgaben für Heizung, Strom und Treibstoff ist jedoch niedriger als in anderen Ländern. Das hat im Bereich der Privathaushalte vor allem damit zu tun, dass der Lebensstandard sehr hoch ist – die Menschen also relativ gesehen weniger Geld für Energie ausgeben müssen.

Ähnliches gilt für die Unternehmen: Die Gaspreise sind aufgrund eigener Lieferverträge weniger stark gestiegen. Die Industrie hat laut Abrahamsen zudem einen vergleichsweise geringen Verbrauch, weil es in der Schweiz aufgrund der Topografie wenig energieintensive Produktionen gibt.

4. Strom aus Atom- und Wasserkraft

Den größten Vorteil im Bereich Energie hat die Schweiz bei der Elektrizität. Das Land kann sich durch Atom- und Wasserkraft fast selbstständig mit Strom versorgen. Im Sommer produziert die Schweiz sogar einen Überschuss, weshalb sie nur in den Wintermonaten importieren muss.

Ein zentraler Faktor sei zudem, dass das vielkritisierte Merit-Order-System in der Schweiz nicht zum Tragen komme, analysiert Weyerstraß vom IHS. Die Preisbildung am Strommarkt folge daher nicht dem teuersten Kraftwerk. Stattdessen wird den Kundinnen und Kunden nur das in Rechnung gestellt, was tatsächlich im Energiemix vertreten ist. Steigende Rohstoffpreise für Gas treiben so lediglich die Kosten für Gas selbst in die Höhe, nicht aber jene für Strom aus Wasserkraft oder anderen erneuerbaren Energiequellen.

Für die Verbraucherinnen und Verbraucher kommt ein weiterer Vorteil dazu: Die Energieversorger dürfen ihre Preise nur einmal im Jahr anpassen. Die nächste Erhöhung steht Anfang 2023 an, dann wird der Strom mit einem Schlag um 30 Prozent teurer. "Das führt bei den Verbraucherpreisen zu einem Sprung von ungefähr 0,6 Prozentpunkten", sagt Abrahamsen.

Trotzdem höhere Zinsen

Spätestens Anfang 2023 wird die Inflation also wieder zulegen – wenn auch auf niedrigem Niveau. Zum Vergleich: In der Eurozone lag die Inflation mit zehn Prozent im September so hoch wie nie seit Einführung der Gemeinschaftswährung im Jahr 1999. In den USA ging die Teuerung zuletzt ein wenig zurück, lag im August jedoch immer noch bei 8,3 Prozent.

Trotz der vergleichsweise niedrigen Inflation hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) kürzlich ihren Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf nunmehr 0,50 Prozent angehoben und damit die Ära der Negativzinsen beendet. Zudem hat die SNB unlängst aufgehört, am Devisenmarkt gegen den harten Franken zu intervenieren. Beides soll den Wert der Währung sichern. (Jakob Pflügl, Nicolas Dworak, 3.10.2022)