Bisher haben sich 1.000 Personen bei der Entschädigungsstelle gemeldet.

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Paris – Florence stammt aus einer katholischen Familie, die guten Kontakt zu einem Priester hatte. Der Geistliche kam regelmäßig zum Essen und fuhr mit der Familie in den Urlaub. Er war ein Intellektueller, der gut reden konnte und mehrere Bücher geschrieben hatte. "Meine Mutter verehrte ihn", erinnert sich Florence. Sie hätte es nie gewagt, ihrer Mutter zu erzählen, dass der Priester sich nachts in ihr Zimmer schlich und sie sexuell missbrauchte.

Es begann, als Florence zwölf Jahre alt war. Erst als sie 17 war, gelang es ihr, den Priester davon abzuhalten. Und erst Jahrzehnte später begriff sie, was ihr damals geschehen war und welche Auswirkungen das auf ihr Leben hatte. "Ich habe es vor mir selbst immer heruntergespielt", sagt die 74-Jährige heute.

Schockwellen ausgelöst

Florence ist eines von mutmaßlich 330.000 Opfern, die seit den 50er Jahren von Priestern, Ordensleuten oder Mitarbeitern katholischer Einrichtungen als Minderjährige sexuell missbraucht worden waren. Vor einem Jahr hatte eine unabhängige Kommission unter dem Vorsitz von Jean-Marc Sauvé ihren Bericht vorgestellt, der Schockwellen in der katholischen Kirche Frankreichs auslöste.

Die französische Bischofskonferenz erkannte den "systematischen" Charakter des Missbrauchs an und versprach den Opfern Entschädigung. Gerade einmal 23 Betroffene haben diese bisher erhalten. In den Augen vieler Opfer dauert der Prozess viel zu lange.

"Anfangs gab es sehr viele Anträge und hohe Erwartungen, die dann enttäuscht wurden. Mir ist klar, dass das schmerzhaft war", sagt der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Eric de Moulins-Beaufort.

Auch Florence, die anonym bleiben möchte, rang sich dazu durch, einen Antrag zu stellen. "Das Gefühl, gehört zu werden, war mir wichtiger als die finanzielle Entschädigung", sagt sie. Darauf verzichten wolle sie aber auch nicht. "Ich möchte mit dem Geld meine Töchter entschädigen. Ich glaube, ich war deswegen oft keine gute Mutter", sagt sie mit Blick auf die Missbrauchserfahrung in ihrer Jugend.

1000 Personen bei Entschädigungsstelle gemeldet

Die Entschädigungsstelle berät noch über die Summe, die Florence erhalten soll. Die Bischofskonferenz will sich um alle Fälle kümmern, auch jene, die nach staatlichem Recht bereits verjährt sind. Die Höhe der Summe richtet sich nach der Schwere des Missbrauchs, aber auch nach dem Ausmaß kirchlichen Versagens und dem Ausmaß der Auswirkungen auf das Leben der Opfer. Die höchste Entschädigungssumme liegt bei 60.000 Euro.

Der dafür vorgesehene Fonds umfasst bisher 20 Millionen Euro, in erster Linie Spenden von Bischöfen und Diözesen. "Wir haben uns keine finanzielle Grenze gesetzt", sagt de Moulins-Beaufort. "Es wird vermutlich einen weiteren Spendenaufruf geben."

Bisher haben sich etwas mehr als 1.000 Menschen bei der Entschädigungsstelle gemeldet. Für Missbrauchsopfer von Ordensleuten gibt es eine eigene Stelle, die sich derzeit um etwa 400 Fälle kümmert.

François Devaux, Mitgründer eines Opferverbands, kritisiert die langen Wartezeiten. "Das verschlimmert den Schaden eher noch", sagt er und verweist darauf, dass bisher kein einziger Bischof zurückgetreten sei.

Welche Spuren der verheerende Missbrauchsbericht in den katholischen Gemeinden in Frankreich hinterlassen wird, ist noch nicht absehbar. Da es in Frankreich keine Kirchensteuer gibt, gibt es auch keine Austrittswellen. "Wir wollen eine Kultur der Wachsamkeit auf allen Ebenen", sagt de Moulins-Beaufort. Es bleibt offen, ob dies katholische Familien überzeugt, ihre Kinder weiter zum Religionsunterricht zu schicken oder Messdiener werden zu lassen. (APA, 4.10.2022)