Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina.

Foto: IMAGO/Pixsell

Nach dem Superwahlsonntag in Bosnien vor einer Woche jubilierten die kroatischen Zeitungen über Christian Schmidt, den Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft: "Schmidt hat Veränderungen zugunsten der Kroaten vorgenommen."

Während viele EU-Vertreter kritisierten, dass der Bosnien-Beauftragte ausgerechnet am Wahlabend, am Tag der Demokratie, Dekrete erlässt, die das Wahlgesetz und die Verfassung betreffen – also als Eingriff in die Wahlen gesehen werden könnten –, sind nationalistische Kroaten zufrieden. Denn sie fordern von Schmidt schon seit langer Zeit, dass er ihre Wünsche erfüllt. Doch was hat der deutsche Politiker nun eigentlich entschieden?

Schon im einleitenden Text für die Gesetzesänderung erwähnt er den Rechtsfall Ljubić und schreibt, dass die Behörden in Bosnien und Herzegowina es versäumt hätten, diese Entscheidung des Verfassungsgerichts umzusetzen. Dies ist allerdings durch die Streichung eines Passus bereits im Jahr 2017 geschehen. Im Fall Ljubić gab es rechtlich also gar nichts mehr umzusetzen – es handelte sich allerdings um eine politische Forderung der kroatisch-nationalistischen Partei HDZ, Änderungen zugunsten der HDZ vorzunehmen, sodass im Verhältnis die Volksgruppenvertreter im Haus der Völker stärker von den ethnonationalistischen Parteien und weniger von anderen Parteien kommen.

Proportionalität verändert

Nun hat der Hohe Repräsentant die Anzahl der Delegierten aus dem serbischen, dem bosniakischen und dem kroatischen Club, die ins Haus der Völker im Landesteil Föderation entsandt werden, von 17 auf 23 erhöht. Die HDZ hatte ursprünglich gefordert, dass aus einigen Kantonen gar keine Vertreter von Volksgruppen mehr entsandt werden, wenn es dort nur sehr wenige Leute gibt, die sich zu einer der Volksgruppen zählen. Dadurch wollte sie indirekt die Anzahl ihrer Vertreter erhöhen. Dies ist jetzt mit der Entscheidung von Schmidt auf andere Weise geschehen.

Der Grazer Verfassungsexperte Joseph Marko, der selbst im bosnischen Verfassungsgericht gearbeitet hat, meint zu Schmidts Gesetzesänderungen, dass sie eine Form des Gerrymanderings darstellten. Unter diesem Begriff versteht man in den USA die Manipulation von Wahlkreisgrenzen, um die eigenen Erfolgsaussichten zu erhöhen. Im Fall der Föderation werden nun zwar die Kantonsgrenzen nicht verändert, doch die Erhöhung der Anzahl der Vertreter geht zugunsten der Mandate für die großen ehtnonationalistischen Parteien, die bosniakische SDA und die kroatische HDZ. Möglicherweise war seitens der SDA deshalb nach der Wahl so wenig Kritik zu hören.

Kleine schlechter gestellt

"Gerade dort, wo die HDZ und die SDA in den Kantonen die meisten Stimmen erreichen, werden auch in Zukunft mehr Mandate vergeben werden, als in anderen Kantonen, wo eher Kandidaten aus der selben Volksgruppe aber aus anderen kleineren Parteien mehr Stimmen bekommen", erklärt Marko. Durch die Erhöhung der Abgeordnetenzahl aus jedem der drei Clubs verändert sich die Proportionalität zugunsten der großen Parteien.

Wie bereits zuvor muss auch jetzt mindestens ein Abgeordneter in jedem der zehn Kantone aus einer der drei Volksgruppen (Serben, Kroaten, Bosniaken) stammen. Aber einer von 23 bedeutet eben anteilsmäßig weniger als einer von 17. Schmidt hat aber auch die Anzahl jener Abgeordneten von sieben auf elf erhöht, die nicht zu irgendeiner der drei großen Volksgruppen gehören. Zudem müssen diese elf Vertreter nun aus allen zehn Kantonen kommen. Das ist als Zugeständnis an Forderungen von Bosniern, die sich nicht ethnisch definieren, und an Forderungen von Minderheiten zu sehen. Allerdings haben diese Bosnier und Bosnierinnen nach wie vor keine Vetomöglichkeiten.

Die erste Wahl

Die HDZ will in erster Linie sichergehen, dass vor allem jene Vertreter der Kroaten als "legitime Kroaten" gesehen werden, die aus Orten kommen, in denen besonders viele Kroaten leben und die HDZ stark ist. Dabei denkt die HDZ vor allem an ihre Hochburgen in der Herzegowina. Die Kroaten, die in Mittelbosnien oder in der Posavina leben, oder kroatische Rückkehrer in der Republika Srpska werden von der HDZ schon seit dem Krieg vergleichsweise vernachlässigt.

Die Gesetzesänderung von Schmidt sieht auch vor, dass es künftig elf Mitglieder eines Clubs im Haus der Völker braucht, um den Präsidenten des Landesteils Föderation zu nominieren – was zentral für die Regierungsbildung ist. Bis jetzt bedurfte es dafür sechs Mitglieder eines Volksgruppen-Clubs und deshalb brauchte die HDZ bisher zwölf Abgeordnete um zu verhindern, dass andere Kroaten einen Vorschlag für einen Präsidenten machen können. Nun braucht die HDZ 18 Abgeordnete, um einen Vorschlag von anderen Kroaten aus dem Klub verhindern zu können. "In jedem Fall behält sie das Monopol", erklärt Marko. Denn die HDZ wird aufgrund ihrer politischen Macht immer die Erste sein, die die erforderlichen elf Abgeordneten erreichen wird.

Zwang zur Mitarbeit

Doch Schmidt hat auch vorgesehen, dass künftig die Wahl des Präsidenten nicht mehr so lange boykottiert werden kann, wie dies die HDZ seit Jahren tut, um eine Regierungsbildung zu verhindern. In einer zweiten oder dritten Runde der Nominierung hätten nämlich auch andere Mitglieder von nicht nationalistischen Parteien des kroatischen Clubs eine Chance, jemanden zu nominieren, die weniger Abgeordnete als die großen ethnonationalen Parteien haben, denn in einer zweiten oder dritten Runde reichen schon viel weniger Abgeordnete für den Präsidentenvorschlag. Aber zu so einer zweiten und dritten Runde wird es in Zukunft wohl gar nicht mehr kommen. "Denn durch die Neuregelung entsteht für die HDZ ein politischer Druck, im ersten Wahlgang einen Kompromiss zu schließen, wenn sie nicht völlig ausgeschlossen werden will", so Marko.

Schmidt hat auch festgelegt, dass die Zentrale Wahlkommission eingreifen kann, wenn die Kantonsversammlungen die Entsendung von Delegierten ins Haus der Völker blockieren, wie dies die HDZ in der Vergangenheit tat. Er kommt den Wünschen der HDZ also inhaltlich entgegen, zwingt sie aber gleichzeitig zur Mitarbeit in den Institutionen. Auch die Ernennung von Richtern am Verfassungsgericht in der Föderation, die ebenfalls von der HDZ boykottiert wurde, soll nun deblockiert werden, indem Fristen eingeführt werden.

Veto bleibt unklar

Ein Veto, das sich auf das vitale nationale Interesse einer Volksgruppe bezieht, darf nach der Entscheidung von Schmidt nicht mehr unbegrenzt und unbestimmt eingesetzt werden, weil nun nicht mehr jedes beliebige sachliche Thema mittels einer Zweidrittelmehrheit in einem Klub zum vitalen nationalen Interesse erklärt werden kann. Schmidt hat auch zahlreiche Fristen eingeführt, falls es wegen des Einsatzes des vitalen nationalen Interesses wieder zu Blockaden kommt.

Rechtsexperte Marko verweist allerdings darauf, dass am Ende wieder das Verfassungsgericht entscheiden muss, ob so ein Veto zulässig ist oder nicht. Und auch in dem Fall gibt es Blockademöglichkeiten, die von Schmidt nicht beseitigt wurden. So ist im Verfassungsgericht ein Siebenersenat zuständig. Und wenn in diesem Senat keine entsprechende Mehrheitsbildung möglich ist, bleibt offen, ob das Veto am Ende legitim war oder nicht. Laut der Verfassung müssen nämlich sieben Richter anwesend sein, aber nur zwei müssen in der Sache zustimmen. "Es bleibt also ein Problem, weil unklar ist, was die erforderliche Zustimmung von nur zwei Richtern bedeuten soll", so Marko. In dem Siebenersenat sind zudem zwei Kroaten, zwei Bosniaken, zwei Serben und ein anderer Richter vorgesehen.

Aufgeblasene Institutionen

Die mächtigen Vetomöglichkeiten sind auch eine demokratiepolitische Frage. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Reformideen von Rechtsexperten eingebracht, die vorsahen, dass das Haus der Völker nicht mehr eine derart mächtige Position – auch im Verhältnis zu den direkt gewählten Volksvertretern in der ersten Parlamentskammer – haben sollte, sondern nur noch eine Institution sein sollte, in der überprüft wird, ob es ein vitales nationales Interesse gibt.

Schmidt hat nun aber nicht das Haus der Völker abgewertet. Im Gegenteil: Nun werden noch mehr Delegierte in der Kammer sitzen, und das wird noch mehr Geld kosten, obwohl es in Bosnien-Herzegowina ohnehin bereits kostspielig aufgeblasene Strukturen gibt. Schmidt hat Journalistenfragen dazu abgetan. Auf Fragen, ob er sich mit Kroatien bei all den Änderungen abgesprochen hat, antwortet er gar nicht.

Marko moniert vor allem, dass es sich um eine offene juristische Frage handle, ob Schmidt mit seinen Entscheidungen vom Wahlsonntag seine Kompetenzen überschritten hat. Denn Schmidts Änderung der Verfassung des Landesteils Föderation sei nicht durch die gesamte Verfassung von Dayton vorgegeben. Seine Änderungen betreffen nämlich nur autonomes Verfassungsrecht der Föderation, welches vorher nicht im Widerspruch zur Dayton-Verfassung stand.

Frage der Kompetenz

"Der Hohe Repräsentant ist aber laut Annex 10 des Daytoner Friedensabkommens nur befugt, die Umsetzung des Dayton-Abkommens zu kontrollieren, er ist aber nicht befugt, sich mit den autonomen Rechtssystemen der Entitäten (also den Landesteilen Föderation und Republika Srpska) zu befassen, also mit deren Verfassungen, soweit diese nicht in Ausführung des Dayton-Abkommen erlassen sind", erklärt Marko.

Die Änderungen, die Schmidt getroffen hat, könnten Marko zufolge rechtlich angefochten werden, wenn es sich um Kompetenzüberschreitungen handeln sollte. Als Ultra-vires-Akt wird in diesem Zusammenhang eine Entscheidung bezeichnet, die ein Gericht oder eine Behörde außerhalb ihres Kompetenzbereichs trifft. Marko verweist darauf, dass zwar auch der ehemalige Hohe Repräsentant Wolfgang Petritsch eine Änderung der Föderationsverfassung vorgenommen hat, diese Änderung stand aber im Zusammenhang mit einer Harmonisierung mit der Verfassung von Dayton. "Im Falle von Ljubić gab es aber vorher keine Verfassungswidrigkeit der Daytoner Verfassung im Verhältnis zur Föderationsverfassung", erklärt Marko. Der Experte räumt aber ein, dass es sich um eine offene Streitfrage handle, die unterschiedliche Interpretationen schlüssig zulasse.

Volkszählung und Friedensabkommen

Für ganz grundlegend bedenklich erachtet Marko aber den Umstand, dass die Volkszählung von 2013 für die gesamten Vorgänge der Wahlen angewandt wird. "Denn dies widerspricht den Bestimmungen, dass der Zensus von 2013 erst angewendet werden darf, wenn der Annex 7 des Daytoner Abkommens vollständig erfüllt worden ist", so Marko. Nach dem Annex 7 haben Flüchtlinge und Vertriebene das Recht auf Rückkehr. Die Flüchtlingsrückkehr nach dem Krieg (1992–1995) wurde aber nicht vollständig ermöglicht, viele Menschen, die zurückkehren wollten, fanden feindliche Bedingungen vor. Dabei ist zu beachten, dass es Ziel der Armee der Republika Srpska war, die ethnische Zusammensetzung des Landes zu verändern. Die ethnische Zusammensetzung ist heute eine ganz andere als vor dem Krieg.

"Wenn die Volkszählung von 2013 für die Entsendeformeln ins Haus der Völker verwendet wird, ist dies rechtswidrig", so Marko. Marko meint daher, dass man die Entscheidungen von Schmidt, wenn der Zensus von 2013 als Grundlage für die Zuteilung von Mandaten an die Kantone verwendet würde, wegen dieser Rechtswidrigkeit vor das Verfassungsgericht bringen könnte.

Schaden für das Amt des Hohen Repräsentanten

Die grüne EU-Abgeordnete Tineke Strik meinte zu Schmidts Gesetzesänderungen, dass diese auf "die Interessen der ethnonationalistischen HDZ-Partei und ihrer Schwesterpartei in Zagreb" zurückzuführen seien. Schmidt habe mit seinen Entscheidungen den Reformprozess erheblich erschwert. "Die Bonner Vollmachten sollten mit großer Integrität und Verhältnismäßigkeit behandelt werden. Ihre Anwendung am Wahltag stellt eine völlige Respektlosigkeit gegenüber den Bürgern dar, die von ihren demokratischen Rechten Gebrauch gemacht haben. Sie hat dem Amt des Hohen Repräsentanten als Institution, die leider immer noch dringend benötigt wird, erheblichen Schaden zugefügt", so Strik.

Tatsächlich drückten viele Bürger und Bürgerinnen von Bosnien-Herzegowina ihren Ärger über Schmidts Vorgehen und ihren Vertrauensverlust in die europäische Politik in sozialen Medien aus. (Adelheid Wölfl, 10.10.2022)