Die Natur ist unter der Herrschaft des Menschen. Er kann mit ihr nach Belieben umgehen, ohne dafür belangt zu werden. Diese kritischen Worte formulierte der neuseeländische Philosoph und Umweltschützer Richard Sylvan in den 1960er-Jahren. Er bezog sich auf den vorherrschen Anthropozentrismus in allen ethischen Überlegungen der westlichen Welt.

Der indische Fluss Ganges gilt mittlerweile zwar nicht mehr als Rechtsperson, in vielen Ländern wie Neuseeland, Italien und Schweden stehen die legistischen Vorzeichen aber gut.
Foto: Reuters/ Danish Siddiqui

Seit einiger Zeit aber ändern sich diese Vorzeichen für die gegenwärtige Umweltproblematik: Neben einem stärker werdenden Bewusstsein für Tierethik scheint die Natur als Einheit immer öfter im Zentrum ethischer Diskussionen zu stehen. Das Ziel: ihr regional Rechte einzuräumen, die dem legalen Status des Menschen ähneln.

Die Rechte der Natur

"Rights of Nature" sei kein Schlagwort von Aktivisten, sondern "eine neue moralische, legistische Idee", sagt der aus Südtirol stammende Wissenschafter Alex Putzer. Er beschäftigt sich seit einigen Jahren mit diesem Thema, derzeit in Form seiner Doktorarbeit an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa.

Ein vor fünf Jahren noch überraschender Zeitungsartikel machte Putzer 2017 neugierig: Der Whanganui River, drittlängster Fluss Neuseelands, war der autochthonen Bevölkerung des Landes, den Maori, nach dem Treaty of Waitangi von 1840 von den Briten weggenommen worden. Der Fluss, den die Maori als ihren Vorfahren bezeichnen, sollte wieder in den Besitz der neuseeländischen Ureinwohner gelangen. Am Ende der Verhandlungen gehörte er niemandem und wurde eine eigene Rechtspersönlichkeit wie ein Mensch.

Der Whanganui River ist mittlerweile eine Rechtsperson und kann vor Gericht vertreten werden.
Foto: Brett Phibbs/AP

"Der Fluss gehört jetzt sich selbst", sagt der sich als Politikphilosoph bezeichnende Wissenschafter. Putzer ergänzt: "Ich bin kein Jurist, ich kann nicht über das legistische Werk referieren." Putzer analysiert die Problematik aber nach politisch-ethischen Prinzipien, hinterfragt Wertvorstellungen, sammelt Daten, führt sie zusammen und zieht daraus Schlüsse für weitere Vorgangsweisen. "Es ist angewandte Philosophie, und es hat gar nichts mit Esoterik zu tun", betont er. Wird es so wie beim Beispiel Whanganui River durchgesetzt, kann der Te Pou Tupua (vertreten von einer Person des britischen Königshauses und einer der Maori) die Verletzung der beschlossenen Naturrechte einklagen.

Lagune als Rechtsperson

Um einer Region Rechte zu geben, braucht es auch nicht zwingend Anträge der indigenen Bevölkerung. "Rights of Nature" werden offenbar von Menschen erkämpft, die sich mit dem jeweiligen Verfassungsrecht auskennen und wissen, was zu tun ist. Das in der spanischen Verfassung verankerte Bürgerrecht, mit Unterstützung von mindestens 500.000 Unterschriften ein Gesetzgebungsverfahren auszulösen, war die Basis, um der Salzwasserlagune Mar Menor (zu Deutsch Kleineres Meer) an der spanischen Mittelmeerküste eine eigene Rechtspersönlichkeit zu geben.

Der Wissenschafter Alex Putzer sieht in der Natur als Rechtsperson eine moralische und gesetzliche Chance.
Foto: Amanda Putzer

Die Lagune wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch intensive Landwirtschaft stark belastet. Überdüngung führte zu Algenwachstum, bei großer Hitze machte Sauerstoffmangel den Lebewesen im Ökosystem zu schaffen: Zwei Massensterben 2019 und 2021 waren die Folge. Der Protest gegen die Verursacher der Umweltkatastrophe verlief medienwirksam in Form einer mehrere Kilometer langen Menschenkette um die Lagune. 615.000 Unterschriften wurden für ein neues Gesetzgebungsverfahren gesammelt. Bei Verdacht auf Rechtsverletzung kann nun die Justiz angerufen werden.

Alex Putzer spricht von mittlerweile 400 Fällen in rund 40 Ländern. Nicht immer gelingt es, der Natur die Rechtspersönlichkeit zu geben, nicht immer kann sie diesen Status auch behalten. So wurden dem indischen Ganges und seinem Nebenfluss Yamuna das zugestandene Recht wieder aberkannt.

Chancen in Europa

Das Urteil konnte aber nicht verhindern, dass das Thema immer häufiger diskutiert wird: In Schweden wird sogar über eine Verfassungsänderung diskutiert, in der Schweiz gibt es einen offiziellen Antrag in der Bundesversammlung. Die grüne Europaparlamentarierin Marie Toussaint fordert eine europaweite Anerkennung: Die Natur als Rechtsperson, nicht mehr als Eigentum des Menschen.

Und wie ist das in Österreich? Hier erregte der Fall einiger illegal importierter Schimpansen Aufmerksamkeit, der Tierschützer und Gerichte jahrelang beschäftigte. Zwei der Tiere, Rosi und Hiasl, waren schließlich keine alltäglichen Gäste im Wiener Tierschutzhaus. Die zahlreichen Initiativen sind allerdings kein "Allheilmittel gegen Umweltkrisen", warnt Putzer davor, sich zu große Hoffnungen zu machen. Die Natur sei nicht "auf uns Menschen angewiesen".

Menschenkette macht auf die Situation der Salzwasserlagune Mar Menor aufmerksam.
Foto: imago images/Lagencia

Allerdings: Wenn es gelingt, noch deutlich mehr Regionen als Rechtssubjekte anzuerkennen, dann könne ein neues Bewusstsein für die Problematik geschaffen werden. Um die erfolgreiche Umsetzung der Idee zu dokumentieren, arbeitet Putzer im Team des Politikwissenschafters Craig Kauffman von der University of Oregon an einem Eco Jurisprudence Monitor. Die in einer Beta-Version vorliegende Webseite ecojurisprudence.org soll bald offiziell gelauncht werden.

Das Thema erfreut sich mittlerweile einiger Popularität: Putzer war kürzlich Gast am Norman B. Leventhal Center for Advanced Urbanism des Massachusetts Institute of Technology. Er hält weltweit Vorträge und ist Teil der Expertenliste Harmony with Nature der Vereinten Nationen. "Wenn es in der Gesellschaft verinnerlicht wird, dass nicht nur der Mensch ethisch wertvoll ist, dann sind die Initiativen im Gesamten erfolgreich gewesen."

Was bedeutet Natur?

Putzer will im Zuge seiner Forschungen aber nicht nur den Umgang mit der Natur, sondern auch die Einstellung vieler Naturschützer hinterfragen. "Welche Vorstellungen haben wir von der Natur? Die unberührte Wildnis, das ist ein klischeehaftes Bild und entspricht kaum noch der Wahrheit."

Gegen einen gewissen Einfluss des Menschen sei aus seiner Sicht nichts einzuwenden, es müsse ja Landwirtschaft geben, "es sollten auch menschenbeeinflusste Ökosysteme Rechtscharakter bekommen". Statt der Hierarchie wie in der Vergangenheit brauche es ein geregeltes Miteinander von Mensch und Natur. Das Miteinander werde man nicht erreichen, wenn man menschliche Eingriffe wie jene gegen Wildtiere, die Probleme machen, unterbinde. "Es geht um das große Ganze", sagt der Forscher, der für diesen systemischen Ansatz noch viel Überzeugungsarbeit leisten wird. (Peter Illetschko, 8.10.2022)