In Wheelsim VR fahren Betroffene nicht nur über schmale Brücken, sie überqueren auch Straßen und holen Pizza. Den virtuellen E-Rollstuhl steuern sie per Joystick.

Foto: Lifetool

Die Straße überqueren, eine Rampe hinauffahren oder in den Bus einsteigen – für viele Menschen im Rollstuhl gehören solche Situationen längst zur Routine. Viele haben gelernt, ihren Rollstuhl geschickt durch die Stadt zu lenken. Für andere, denen das aufgrund körperlicher oder intellektueller Einschränkungen nicht möglich ist, sind elektrische Rollstühle heutzutage eine große Hilfe, um sich im Alltag selbstständiger durch die Stadt bewegen zu können. Der Umstieg auf das elektrische Gefährt erfordert jedoch Übung.

Lifetool, eine Beratungsstelle für assistierende Technologien mit Sitz in Linz, hat dafür den virtuellen E-Rollstuhl-Simulator Wheelsim VR entwickelt. Er richtet sich an Menschen jeden Alters, die erstmals einen E-Rollstuhl bekommen haben oder schon bald einen erhalten könnten. Mit der App üben Betroffene den Umgang mit dem E-Rollstuhl im geschützten, virtuellen Raum.

Virtuell zum Postamt

Schon vor 15 Jahren erschien Wheelsim für den Computer. Vor zwei Jahren brachte Lifetool die App in die virtuelle Realität (VR), um ein realistischeres E-Rollstuhl-Training zu schaffen. "Virtual Reality erlaubt es uns, Situationen realitätsnaher abzubilden", sagt Michael Gstöttenbauer von Lifetool, der die Entwicklung von Wheelsim VR begleitet hat. Im STANDARD-Gespräch gibt er einen Einblick in die virtuelle Trainingswelt. Betroffene können darin aus verschiedenen Funktionen wählen. In einem Übungspark können sie über Rampen fahren oder im Slalom zwischen Pylonen.

Beim Zeitfahren üben Anwenderinnen, in einer bestimmten Zeit auf einer Strecke möglichst die Spur zu halten. Im Rahmen von Aufträgen holen Nutzerinnen und Nutzer eine virtuelle Pizza ab oder bringen ein Paket zum Postamt. Dafür müssen sie aber zuerst eine Ampel oder einen Zebrastreifen überqueren. Gerade jüngeren Personen im Rollstuhl vermittelt die App dadurch nicht nur den Umgang mit dem E-Rollstuhl, sondern gleichzeitig Verhaltensregeln für den Straßenverkehr.

Hilfe bei Genehmigungen

Ein großer Vorteil ist laut Gstöttenbauer, dass Anwenderinnen und Anwender durch die VR ein besseres Gefühl für Umgebung und Distanzen bekommen. Senken sie mit der VR-Brille den Kopf, sehen sie die Räder ihres E-Rollstuhls und können Abstände besser einschätzen. Werfen sie einen Blick über die Schulter, sehen sie, ob hinter ihnen ein Objekt oder eine Person steht.

Die virtuellen Trainingsfahrten helfen Betroffenen aber nicht nur dabei, sich auf den Alltag im E-Rollstuhl vorzubereiten. "Die Leute können zeigen, dass sie trotz einer Einschränkung mit einem E-Rollstuhl umgehen können", sagt Gstöttenbauer. Häufig werde das den Betroffenen nicht zugetraut. Das virtuelle Training kann Menschen deshalb dabei helfen, einen E-Rollstuhl überhaupt erst bewilligt zu bekommen. Für Therapeutinnen und Rollstuhlversorger, die häufig über die Genehmigung entscheiden, bietet die App hierbei eine wichtige Entscheidungshilfe.

In der App führen Nutzerinnen und Nutzer Aufträge aus. Sie müssen etwa ein Paket zum Postamt bringen und dafür einen Zebrastreifen überqueren.
Foto: Lifetool

Wenig vergleichbare Apps

Vielen Betroffenen hat die App dadurch schon geholfen, sagt Gstöttenbauer. In Deutschland etwa habe eine Krankenkasse den E-Rollstuhl für einen Jungen mit der Begründung abgelehnt, dass er nicht damit umgehen könne. Er trainierte ein Jahr lang mit Wheelsim und zeigte, dass er einen E-Rollstuhl prinzipiell fahren kann. Das erleichterte es den Eltern, eine Genehmigung für einen E-Rollstuhl zu erhalten.

Obwohl die App eine Nischenlösung ist, besteht laut Gstöttenbauer weltweit Interesse an der App. Ein Grund dafür ist auch, dass es neben Wheelsim nur wenige vergleichbare Apps am Markt gibt, die den Umgang mit E-Rollstühlen trainieren. Bisher gibt es die App in zwei Versionen, die mit oder ohne VR-Brille genutzt werden können. Die einfache Version kostet rund 100 Euro und richtet sich an Privatpersonen und den Einsatz zu Hause.

Private nutzen VR wenig

Die Pro-Version kostet rund 500 Euro und umfasst einige zusätzliche Funktionen. Anwenderinnen und Anwender können Sitzungen etwa aufzeichnen und im Nachgang als Video ansehen. Laut Lifetool bietet sich die Version daher vor allem für Therapiezentren und Rollstuhlversorger an. In diesem Umfeld wird die Virtual-Reality-Variante der App bisher auch am meisten eingesetzt.

Das hat vor allem finanzielle Gründe: Betroffene benötigen einen professionellen Gaming-PC inklusive VR-Ausrüstung, um in der virtuellen Realität zu üben. Nur wenige können sich das leisten. In Schulen und im privaten Bereich nutzen Betroffene deshalb eher die klassische PC-Version, die sich mit Maus und Tastatur steuern lässt. Wenn die VR-Technologie in Zukunft günstiger wird, findet das virtuelle Rollstuhltraining möglicherweise vermehrt auch in privaten Haushalten statt.

Bis es so weit ist, könnte die App laut Gstöttenbauer um weitere Funktionen erweitert werden. Dazu gehört etwa das Fahren bei unterschiedlichen Bedingungen wie Regen oder Schnee. Betroffene könnten außerdem üben, selbstständig in Busse, U-Bahnen oder Züge einzusteigen.

Anwenderinnen und Anwender lernen, wie sie sich mit dem E-Rollstuhl auch in ihrer Wohnung zurechtfinden können.
Foto: Lifetool

Echte Welt mit Hürden

Bei Anwenderinnen und Anwendern kommt die App bisher gut an, sagt Gstöttenbauer. Trotzdem hat die App noch einige Hürden zu überwinden. Der Umgang mit der VR-Brille stellt Anwenderinnen und Anwender mit Mehrfachbehinderung häufig vor Probleme. Ihnen fällt es schwer, die VR-Brille aufzusetzen und einzustellen.

Zudem leiden manche Personen unter Schwindel oder Übelkeit, wenn sie lange Zeit in der VR-Umgebung herumfahren. Das passiert, wenn sich Personen zwar virtuell bewegen, aber in Wirklichkeit mit dem Rollstuhl auf derselben Stelle stehen. Die Unstimmigkeit zwischen visueller und körperlicher Wahrnehmung löst bei vielen Betroffenen Unwohlsein aus. Gstöttenbauer hofft, dass sich dieser Effekt künftig entschärfen lässt.

Hindernisse liegen aber nicht nur in der virtuellen Welt von Wheelsim, sondern auch in der echten Welt. Gerade bauliche Hürden sind für Betroffene oft ein großes Problem. Rampen fehlen oder sind zu steil, Kanten und Gehsteige nur schwer zu überwinden. "Solche Dinge stressen Betroffene sehr. Hier fehlt es noch an öffentlicher Wahrnehmung", sagt Gstöttenbauer.

Laut dem Bundesverband für Menschen mit Behinderung sind allein in Wien rund 60 Prozent der Geschäfte nicht barrierefrei. Hinzu kommen viele weitere Hürden, die Betroffene täglich behindern. Damit Personen im E-Rollstuhl künftig autonom durch die Stadt fahren können, reicht das VR-Training deshalb nicht. Es muss sich auch in der echten Welt etwas ändern. (Florian Koch, 7.10.22)