Für ihr Werk wurde Annie Ernaux am 6. Oktober mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

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"… aber vielleicht ist Ärgeres geschehen." – Franz Kafka

Mit jahrzehntelanger Verspätung, dafür aber in sehr schöner Aufmachung, veröffentlicht der Suhrkamp-Verlag nun Jahr für Jahr die früheren Bücher der Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur, Annie Ernaux, für die der Durchbruch in Deutschland erst 2019 mit Die Jahre kam – einem Erfolg, der ihr im deutschsprachigen Raum erst im Windschatten ihrer "Ziehsöhne" Didier Eribon und Edouard Louis gelang. International gehört sie seit 2020 zum Zirkel der Kandidaten für den Nobelpreis, der ihr in diesem Jahr schließlich zuerkannt wurde.

Immer wieder kehrt sie zurück zur Urszene, nach Yvetot, in den kleinen Laden, die Épicerie-Mercerie ihrer Eltern mit angeschlossener Kneipe. Der Titel des nun veröffentlichten Textes klingt erst einmal nach Distanz. Wer kann das sein, Das andere Mädchen? Ihre Biografie hat Annie Ernaux in vielen autobiografischen Büchern minutiös ausgeleuchtet: Wir wissen alles über ihre kleinbürgerliche Herkunft im normannischen Yvetot, über Vater, Mutter, über Schande, Mädchenerinnerungen, über ihre schwierige Ablösung, die sie als Verrat empfindet, über demütigende sexuelle Erfahrungen, eine traumatisierende Abtreibung, Vereisungen in der Ehe, heftige Leidenschaften danach und die Demenzerkrankung der Mutter. Was bedeutet nun diese Leerstelle?

Der nie abgeschickte Brief

Der Verlag Editions Nil hatte 2011 die Idee, in Analogie zu Kafkas nie abgeschicktem Brief an den Vater Autoren und Autorinnen aufzufordern, den ungeschriebenen Brief ihres Lebens endlich zu schreiben. Annie Ernaux nimmt diese Herausforderung an und enthüllt ein weiteres schmerzhaftes Detail ihrer Biografie: Mit zehn Jahren erfährt sie zufällig – sie belauscht ein Gespräch ihrer Mutter –, dass sie kein Einzelkind ist. Es gab "das andere Mädchen", das mit sechs Jahren an Diphterie verstorben war, zwei Jahre vor ihrer Geburt. Der Satz, der für Annie Ernaux ihre bisherige Welt zusammenbrechen lässt, heißt: "Sie ist wie eine Heilige gestorben. (…) Sie war viel netter als die da."

Die da, das ist Annie, der mit diesem Satz der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Von dieser engelsgleichen Schwester war nie die Rede gewesen, wird auch nie die Rede sein vonseiten der Eltern. Es gibt keine Spielsachen, keine Fotos. Erst Cousinen werden später Andeutungen über die tote Schwester machen, drei verschwommene Fotos in Sepia tauchen später bei Tanten auf. Die Eltern haben den Schmerz über den Verlust der geliebten Tochter nie verwunden, aber einen "Ersatz" gezeugt, Annie, die keine Heilige ist, sondern "den Teufel im Leib hat", "gierig und unleidlich, kokett und besserwisserisch" ist.

Welche Verheerungen ein solches Erlebnis in der Seele eines zehnjährigen Kindes auslöst, welche Folgeschäden das haben wird, kann man kaum ermessen. Zu erfahren, dass man nur die Zweitbesetzung ist, nur Ersatz, und zwar ein minderwertiger, kann nicht nur eine Kindheit verschatten. Annie Ernaux, die so versierte Soziologin ihrer selbst, hat sechzig Jahre gebraucht, um sich diesem Heiligenbild in Sepia zu stellen, wissend, dass man gegen Tote immer verliert. Sie bleibt über lange Strecken im Text namenlos, das andere Mädchen, die gute Tochter, die sterben musste, damit sie selbst auf die Welt kommen konnte, da für die Eltern immer klar war, dass sie aufgrund ihrer prekären Lebenssituation nur ein Kind würden großziehen können.

Betrogen und getäuscht

Die kleine Heilige, die "zur Gottesmutter und zum lieben Jesus" heimging, musste sterben, damit der kleine Teufel leben konnte. Was für eine Hypothek! Man hatte ihr die Existenz der Schwester verschwiegen, um sie nicht zu belasten, das Familiengeheimnis mit einem Bleideckel verschlossen, ein Teil des Lebens im Schweigen erstickt.

"Nett" wird sie, Annie, nicht mehr sein, sie, das unvergleichliche Einzelkind, ist in Wahrheit immer verglichen worden und hat immer schlechter abgeschnitten. Oder, wie es eines Tages die Internatsleiterin formuliert: "Man kann in allen Fächern überall ein ,Sehr gut’ haben und Gott trotzdem nicht wohlgefällig sein." Die kleine Annie fühlt sich um alles betrogen, getäuscht und hintergangen. Später wird sie mit dem Pathos der Jugend in ihrem Zimmer ein großes Blatt mit einem Zitat von Paul Claudel an die Wand heften: "Ja, ich glaube, dass ich nicht umsonst auf die Welt gekommen bin und dass es in mir etwas gibt, das die Welt nicht entbehren konnte."

Annie Ernaux, die immer behauptet hatte, sich nicht für die Grauzonen ihres Lebens zu interessieren und deshalb auch das Schreiben der Psychoanalyse vorzieht, muss sich für diesen Text korrigieren. Die Erkenntnis, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Tod der Schwester und ihrem eigenen Überleben gibt, hat sie wie ein Blitz getroffen, schreibt sie in ihrem Buch L’écriture comme un couteau. Für diesen Fall hat sie sich selbst ganz überraschend widerlegt.

Annie Ernaux, "Das andere Mädchen". Übersetzt von Sonja Frick.
€ 18,– / 80 Seiten, Suhrkamp 2022. Es erscheint am 10. 10.
"Die Scham" von Ernaux hat am 29.10., 20 Uhr, in der Dunkelkammer am Wiener Volkstheater Premiere. Weitere Termine: 3., 13., 18. 11.
Foto: Suhrkamp

Tragischer Tod ohne Impfung

Der Brief an die tote Schwester, die sieben Monate vor Einführung der Allgemeinen Impfpflicht ungeimpft gestorben war, ist voller Selbstzweifel, eine Art Befreiungsschlag nach so langer Zeit. Aber auch ein Befreiungsschlag gegenüber der Mutter, gegen die sie ein Leben lang angekämpft hat, außer in deren Zeit der Demenz. Der Brief bleibt innerlich distanziert, sie schafft es nicht einmal, "unsere" Mutter oder "unser" Vater zu sagen. Den Vornamen der Schwester – Ginette – erfährt sie wiederum von einer Cousine, die Eltern sprechen ihn nie aus, auch sie selbst später nur mit großem Widerwillen, sie findet ihn altmodisch, lächerlich, aber auch irgendwie tabuisiert.

Die Eltern sagen ihr nie, dass es das Bett der toten Schwester war, in dem sie bis zum Alter von sieben Jahren geschlafen hat, dass es deren Schultasche war, mit der sie zur Schule gegangen war. Vieles kann sie dem Schweigen der auch in Frankreich bleiernen Zeit anlasten, aber dass sie selbst auch als Erwachsene keine Fragen gestellt hat, ist ihr nun unbegreiflich. Irgendwann war das Schweigen zu lang, das Geheimnis zu alt. Beim Demenztest kann die Mutter nur eine Frage korrekt beantworten, sie sagt: "Ich habe zwei Töchter gehabt."

Die Eltern haben diese Tochter für sich behalten, in sich verschlossen wie in einem Heiligtum, dessen Zugang ihr verwehrt war. Aber diese Tochter ist auch das, was die Eltern am tiefsten verbindet, sie alle Szenen miteinander und Enttäuschungen übereinander, auch den Mordanschlag im Keller (Die Schande), vergessen lässt. Später haben sie dann alle Erinnerungen mit ins Grab genommen, es gibt keine Anekdoten, keine überlieferten Sätze, keine Kinderszenen, nur Leere.

Beweisaufnahme der Existenz

Letztlich scheitert dieser Brief an die kleine große Schwester, weil sich in und aus dieser Leere heraus keine Sprache finden lässt, sie ist außerhalb der Gefühle und der Emotionen. Auch schreibend kann sie die Schatten nicht fassen. Am Ende ihrer Auseinandersetzung mit der toten Schwester weiß sie nicht, ob sie stolz darauf sein oder sich schämen soll. Vielleicht wollte sie sich nur einer imaginären Schuld entledigen, sie, die unbekannte Schwester, wieder zum Leben erwecken, um sie umso sicherer wieder sterben zu lassen, sich von ihrem Schatten zu befreien. "Die Befreiten" ist ja auch der Titel der französischen Verlagsreihe. Die Eltern und die Schwester sind in Yvetot begraben. "Ich werde da nicht begraben sein." Den Eltern ist sie schreibend entronnen, mit diesem Brief, in dem sie gegen die Langlebigkeit der Toten ankämpft, wird sie auch ihr entrinnen. Eine gewisse Befriedigung zieht Ernaux aus der Tatsache, dass sie selbst im gleichen Alter eine Tetanus-Infektion überstanden hat, dass sie also wie durch ein Wunder gerettet wurde, während die kleine Heilige sterben musste.

Annäherung an das Ich

Annie Ernaux, die Schriftstellerin, wird 2003 in ihrem Tagebuch die Szene mit der Mutter Revue passieren lassen und notieren: "Ich bin nicht nett wie sie, ich bin ausgeschlossen. Also werde ich nicht in der Liebe sein, sondern in der Einsamkeit und in der Intelligenz."

Oder im Schreiben, möchte man hinzufügen, denn das Schreiben ist ihr Beweisaufnahme ihrer Existenz. Mit ihrer "Écriture factuelle", ihrer nichts ausschmückenden, fast spröden Sprache gelingt ihr eine Annäherung an das Ich, das sie einmal war.

Dieser gescheiterte Versuch der Integration eines traumatischen Kindheitserlebnisses in das eigene Selbst ist allerdings für Lesende mehr als verstörend. Er bringt uns in dem zehnjährigen, wenig netten Ersatzkind die große Schriftstellerin Annie Ernaux näher denn je. Insofern sind wir auch ganz nahe bei dem jungen Kafka, dem der übermächtige Vater die Lebenskraft geraubt hat, dem "vielleicht Ärgeres geschehen" ist, der von jeder einzelnen der Vateraktionen "einen inneren Schaden" hatte. (Barbara Machui, 7.10.2022)