Mit lautem Rattern setzt sich die alte Lokomotive in Bewegung. Je weiter sich der Zug von St. Pölten in Richtung Süden entfernt, desto weniger Fahrgäste steigen zu. Ein paar Menschen steigen schließlich in Lilienfeld aus, darunter auch Lucas Praschl. Er marschiert Richtung Busstation, um noch weiter nach St. Aegyd zu fahren. Rund eineinhalb Stunden pendelt der Schüler jeden Tag zwischen St. Pölten und seiner Heimatgemeinde. Aber nicht mehr lange, sagt er. Denn nach der Schule will er Medizin studieren und dann vielleicht in Wien oder St. Pölten leben. "Es gibt nichts, was mich hier hält."

Andere junge Menschen im Ort kennen diese Einstellung. "Die meisten meiner Freundinnen studieren gerade in Wien. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen eines Tages hierher zurückkommen", sagt Annika Weiß, die an einer weißen Mauer am Ortsanfang von Lilienfeld lehnt und sich eine Zigarette anzündet. Die 23-Jährige hat eine Arbeit in einer Fensterfirma im Ort gefunden. Viele Bekannte seien bereits woanders hingezogen.

Verlust an den Rändern

Kaum eine Region verliert ihre Einwohnerinnen und Einwohner so schnell wie Niederösterreichs Ränder, wie etwa das Wald- und Weinviertel im Norden und das Voralpengebiet im Süden. Im Durchschnitt wandern etwa jedes Jahr zwanzig Menschen aus der Bezirkshauptstadt Lilienfeld ab. In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Bevölkerung der niederösterreichischen Gemeinde von 3000 auf 2600 Einwohner geschrumpft.

Viele Menschen zieht es in das 30 Autominuten entfernte St. Pölten, weiter nach Wien oder in die Großstadt-Umgebung wie Wiener Neustadt, Gänserndorf oder Bruck an der Leitha, die jedes Jahr um fast zwei Prozent wachsen. Viele junge Menschen kehren nach der Ausbildung oder dem Studium nicht wieder nach Hause zurück.

Grafik: Michael Matzenberger

Es fehlt an Grundstücken

Wolfgang Labenbacher, der Bürgermeister von Lilienfeld, zeigt auf einen Zettel, den er vor sich auf den Tisch legt. Darauf zieht sich die Linie, die die Bevölkerungszahl der Gemeinde abbildet, steil nach unten. "Wir sind hier an der Grenze der Abwanderungsregion", sagt Labenbacher. Als Grund für den Bevölkerungsschwund nennt er auch die Babyboomer-Generation, die jetzt in Pension geht, und die geburtenschwächeren Generationen danach.

Es gebe heute zwar wesentlich mehr Eigenheime und Wohnungen in dem Ort als in den 1950er-Jahren. Diese würden aber von immer weniger Menschen bewohnt. Für den Bau weiterer Wohnungen oder Häuser im Ort fehle es an freien Grundstücken, sagt Labenbacher.

Wolfgang Labenbacher, Bürgermeister von Lilienfeld, sieht einen Grund im Bevölkerungsrückgang der Gemeinde darin, dass es weniger Nachwuchs gibt.
Foto: Jakob Pallinger

Komplexe Entscheidung

"Die Entscheidung, wohin Menschen ziehen, ist sehr unterschiedlich und komplex", sagt Tatjana Fischer, Wissenschafterin an der Universität für Bodenkultur in Wien, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema Abwanderung beschäftigt. Sie hänge unter anderem vom Lebensalter, der Familie, dem Job-, Wohnungs- und Verkehrsangebot und dem Wohlbefinden vor Ort ab.

Was sich aktuell zeige, sei ein Trend zur sogenannten multilokalen Lebensführung: Der Hauptsitz werde etwa in die Nähe der Stadt und des Arbeitsplatzes verlegt, der Nebenwohnsitz befindet sich in der Heimatgemeinde. Für die Gemeinden bedeute das wiederum weniger Einnahmen aus dem Finanzausgleich, sagt Fischer.

Arbeitskräfte fehlen

"Die Hauptwohnsitzer werden weniger und die Zweitwohnsitzer mehr", bestätigt Claudia Kubelka, Bürgermeisterin der kleinen Gemeinde Annaberg diesen Trend. Das führe zu einem Missverhältnis: Mit geringeren Mitteln müssten die Gemeinden dieselbe Infrastruktur aufrechterhalten.

Annaberg zählt zu jenen kleinen Gemeinden im südlichen Niederösterreich, in denen die Bevölkerung allein in den vergangenen fünf Jahren um rund acht Prozent geschrumpft ist. "Die Abwanderung führt zu der Herausforderung, dass ältere Menschen womöglich nicht mehr so gut versorgt werden können, wenn die nächste Generation nicht mehr vor Ort ist", sagt sie. Zudem fehle es an Arbeitskräften: Tischler, Maler und Mitarbeiterinnen beim Betrieb der Bergbahn oder in der Gastronomie suche die Gemeinde seit Jahren.

Bevölkerung altert

Ähnliches hört man aus anderen kleinen Gemeinden. "Vor allem junge Menschen gehen aus der Region weg und es ist schwierig, sie zurückzuholen", sagt Thomas Teubenbacher, Bürgermeister von Mitterbach. Der Ort liegt eingebettet zwischen Ötscher und Erlaufsee, direkt an der Grenze zur Steiermark. Schon vor vier Jahren hat die Gemeinde die 500-Einwohner-Marke unterschritten, seit mehr als zwanzig Jahren geht die Einwohnerzahl zurück. Man habe es verabsäumt, eine höherbildende Schule in der Region zu etablieren, sagt Teubenbacher. Zudem altere die Bevölkerung schnell, die Sterberate liege deutlich über der Geburtenrate.

Viele Betriebe im Ort haben deshalb Schwierigkeiten, Mitarbeiter zu finden. "Vor allem in der Baubranche oder in der Gastro fehlen uns die Leute, ebenso wie in der Holzverarbeitung", sagt Teubenbacher. Die umliegenden Wälder würden immer wieder vom Borkenkäfer zerfressen werden, weil Forstarbeiter fehlen, um die betroffenen Bäume rechtzeitig aus dem Wald zu holen. Ehemalige Tischler im Ort seien nicht mehr nachbesetzbar. Wenn die Nahversorgung wegfällt, ziehen wiederum weniger Menschen in den Ort. "Das ist ein Teufelskreis", sagt Teubenbacher.

Kein Patentrezept

Was braucht es, um Abwanderungsgemeinden wieder attraktiver zu machen? Ein Patentrezept dafür gibt es nicht, sagt Fischer. Was für eine Gemeinde gelte, müsse nicht für eine andere gelten. Zudem gebe es viel zu wenige Daten, um verlässliche Aussagen über einzelne Regionen zu machen.

Wichtig sei, wie gut vor allem junge Menschen und insbesondere Frauen in der Gemeinde und der Region gehalten werden können. "Da braucht es nicht nur eine gute Mobilität und Arbeitsplätze, die nicht zu weit entfernt sind, sondern auch eine gute Kinderbetreuung und ein Angebot an Freiwilligenarbeit und Vereinen, die nicht nur Männer, sondern auch Frauen ansprechen", sagt Fischer.

Wohnraum schaffen

In Lilienfeld setzt der Bürgermeister vor allem auf das Thema Wohnen. In den nächsten Jahren will Labenbacher alte Wohnungen und Häuser sanieren, um Platz für neue Einheiten zu schaffen. Die Wohnungen, die bisher gebaut wurden, seien allesamt schnell verkauft worden. Auch die Kinder- und Nachmittagsbetreuung an den Schulen habe man ausgebaut. Dafür ist die Kinderarztstelle im Ort schon seit fünf bis sechs Jahren unbesetzt. "Für unsere letzte Kinderärztin hat sich die Arbeit nicht mehr gerechnet", sagt er. Wie sehr die Maßnahmen den Bevölkerungsschwund der Gemeinde umkehren können, werden aber wohl erst die nächsten Jahre zeigen.

Unter der Woche geht es im Zentrum von Lilienfeld eher gemächlich zu.
Foto: Jakob Pallinger

Auch Mitterbachs Bürgermeister Teubenbacher glaubt, dass die Gemeinde einiges zu bieten hat, um Zuzügler anzulocken: etwa die Ötschergräben als Wandergebiet im Sommer und ein Skigebiet im Winter. In den vergangenen Jahren habe die Zahl der Tageswanderer und Touristen in den Ötschergräben zugenommen – so stark, dass es uns fast zu viel geworden ist mit den Touristen, sagt er. Um auch Zuzügler für ein Leben in Mitterbach zu begeistern, versuche er, die Vereine, die es im Ort gibt, zu unterstützen. Nicht zuletzt sei Mitterbach mit der Mariazellerbahn auch gut an die Umgebung angebunden.

Trendwende möglich

Kubelka ist zuversichtlich, dass in Annaberg eine Trendwende gelingen kann. "Die Abwanderung ist nicht mehr so gravierend, wie sie einmal war", sagt die Gemeindechefin. Sie glaubt, dass auch die Corona-Pandemie und die Klimaerwärmung dazu beitragen könnten, dass Annaberg eines Tages wieder wächst. "Die Menschen haben erkannt, dass es schön ist, wenn man jederzeit draußen in der Natur spazieren gehen kann – und auf dem Land im Homeoffice arbeitet", sagt sie. Wenn es durch den Klimawandel in den Städten zunehmend heißer wird, würden viele die kühleren Temperaturen in ländlichen Regionen suchen, glaubt sie.

Auch Fahrgemeinschaften, die per App organisiert werden, wolle sie in Zukunft voranbringen und zudem auf kleinere Handwerksbetriebe im Ort setzen. Ganz besonders wichtig sei, dass Nahversorgung, Volksschule, Kinderbetreuung und die Ärztin weiterhin in der Gemeinde erhalten bleiben, sagt sie. Das soll künftig vor allem junge Menschen und Familien anziehen. Zumindest die 500-Einwohner-Marke könnte die Gemeinde damit vielleicht halten. "Vergangenes Jahr hatten wir zehn Geburten, und zwei junge Familien sind zugezogen", sagt Kubelka. "Das war ein gutes Jahr." (Jakob Pallinger, 13.10.2022)