Barbara Staudinger (49) ist Direktorin des Jüdischen Museums Wien.

Die Absolventin des Akademischen Gymnasiums in Wien liebte als Kind die Bücher von Christine Nöstlinger, vor allem das wenig bekannte Das Leben der Tomanis: "Die Meierschwestern sind sehr brav und angepaßt, bis der Vater ihnen am Flohmarkt Das Leben der Tomanis kauft. Während des Lesens ändern sich die beiden von brav und folgsam zu wild und ungestümt, sie klettern auf Bäume und spucken mit Marillenkernen, wollen nicht mehr in die Schule gehen, sondern Spaß haben, kurz: Sie werden zu Tomanis. Am Schluss werden es die Eltern auch, und sie segeln singend und tanzend aus ihrer Spießervorstadt weg auf der Suche nach einem Land, in dem Leute ihresgleichen willkommen sind."

Apropos Kinder: In David Grossmans Eine Frau flieht vor einer Nachricht, einem ihrer vielen Lieblingsbücher, geht es "um den Tod und die Wahrheit des Todes. Um eine Frau, deren Sohn bei einer Truppenübung der israelischen Armee ist. Sie, die ein problematisches Verhältnis haben, wollen nach seiner Rückkehr auf eine gemeinsame Wanderung gehen, die Mutter wartet auf ihn, aber der Sohn kommt nicht mehr. Die Armee überbringt die Nachricht des Todes immer mit einem Boten, aber die Mutter flieht vor dessen Nachricht und geht alleine auf die Wanderung, sie sagt sich: Solange mir die Nachricht seines Todes nicht überbracht wurde, solange ich nicht zuhause bin und der Bote mich nicht antrifft, ist mein Sohn am Leben."

David Grossman selbst hat 2006 im Libanon einen Sohn verloren, und "bei der Lektüre dieses Buches wird einem bewusst, dass auch das eigene Kind sterben kann", sagt Staudinger, die selbst Mutter ist. "Das darf nicht sein, weil es das Unnatürlichste überhaupt ist, dass das Kind vor den Eltern stirbt. Das berührt jeden." Und überhaupt: "Alle gute Literatur berührt einen am Herzen, und wenn ich nicht in der Öffentlichkeit lese, dann lache ich laut oder weine ich."

Und wenn Grossman endlich den Literaturnobelpreis bekommt, was sie ihm wie keinem anderen wünscht, wird sie vielleicht beides gleichzeitig tun, vor Freude und Glück.
(Manfred Rebhandl, 8.10.2022)