Im Gastblog schreibt Cosima Rudigier über die Traditionelle Tibetische Medizin.

Tibet. Ein mystisches Land, umringt von mächtigen Bergen, umwoben von Sagen und Mythen, die seit Jahrhunderten in den Herzen der Reisenden und Forschenden Sehnsucht und Neugier wecken. Der spirituelle Ruf hallt Tibet historisch, politisch und religiös nach, denn Tibet ist vor allem aufgrund seines geistlichen Anführers, seiner Heiligkeit, dem 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso, bekannt. Der Buddhismus, der sich im Westen aufgrund seiner Rolle als philosophisches System, das Praktizierenden viel Eigenverantwortung zumutet, großer Beliebtheit erfreut, ist Träger dieser globalen Bekanntheit. Doch das philosophische System des Buddhismus ist nicht das einzige Exportprodukt dieser zentralasiatischen Region, auch die Traditionelle Tibetische Medizin (TTM) ist substanzieller Teil dieses östlichen Wissensspeichers.

Auf Basis der besonderen Geografie und unter starkem Einfluss der Religion des Buddhismus entwickelte sich das Heilsystem Tibets.
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Same Same But Different?!

Obwohl das Heilsystem der Traditionellen Tibetischen Medizin weniger im Rampenlicht steht als seine Verwandten, etwa die Traditionelle Chinesische Medizin oder das indische Ayurveda, sind seine Vielfalt und Tradition mindestens genauso wertvoll.

Die Anfänge des Systems der tibetischen Medizin – im Tibetischen "Sowa Rigpa", als "Weisheit des Heilens" übersetzt – reichen 3.000 Jahre zurück und sind tief in der schamanischen Heiltradition der präbuddhistischen Religion des Bön verwurzelt. Durch diverse Einflüsse aus Nepal, Indien und China, die mit der Verbreitung des Buddhismus in Tibet einströmten, bildete sich schließlich die TTM als Resultat dieses regen Wissensaustauschs. Das riesige Handelsnetz der Seidenstraße, jene antike Verbindung zwischen Asien und Europa, die Menschen, Kulturen und Wissen verband, spielte bei der Entwicklung der tibetischen Medizin ebenso eine Rolle, da durch sie auch die Einflüsse der Medizinsysteme, die in der persischen, arabischen und griechischen Welt zu dieser Zeit etabliert worden waren, transportiert wurden.

Das Heilsystem der TTM ist vor allem deswegen so interessant, da es von zwei wesentlichen Faktoren beeinflusst wird: der Geografie und der Religion Tibets.

Die Medizin passte sich graduell den Lebensbedingungen in den hohen Bergen an, die die Physiologie und sogar Genetik der Patientinnen und Patienten beeinflusst haben. Auf Basis dieser besonderen Geografie und unter starkem ideologischem Einfluss der Religion des Buddhismus entwickelte sich demnach dieses Heilsystem Tibets, dessen Behandlungsmethoden und diagnostische Verfahren holistisch und vielfältig anwendbar sind.

Die Lehre der Elemente

Die zentrale Schrift, auf die sich die TTM beruft, sind die vier Medizin-Tantras, auf Tibetisch Gyud-shi genannt. Die ursprünglichen Lehren des Medizinsystems sollen vom Medizinbuddha Sangs-rgyas sman-bla gelehrt worden sein, und sie findet sich allesamt in besagtem Tantra – ein Begriff für Lehrsystem. In den vier Büchern mit insgesamt 156 Kapiteln und 5.900 Versen finden sich beispielsweise Vorschläge und Richtlinien für das richtige ethische Verhalten jener, die Medizin praktizieren, oder Kommentare zu Behandlungsmethoden und Schilderungen konkreter Krankheitsbilder.

Die Lehren der Traditionellen Tibetischen Medizin, wie auch jene der chinesischen Tradition, beziehen Kenntnis und Charakterisierung der fünf Elemente Wasser, Feuer, Erde, Holz und Metall in ihre Ansätze mit ein. Denn wenn diese Elemente, gemäß jener Lehren, im menschlichen Körper nicht miteinander im Einklang sind, so kann kein langfristig anhaltender, gesunder Zustand, weder seelisch noch körperlich, gewährleistet werden.

Die Traditionelle Tibetische Medizin setzt auf eine holistische Methode der Behandlung und Diagnostik – es wird nicht nur auf aufflammende Symptome geachtet, sondern einen Schritt tiefer gegangen, um nicht nur das Symptom selbst, sondern die Ursache für das Erscheinen jenes zu gegebenem Zeitpunkt zu erforschen.

Laut TTM ist die Ursache aller Leiden die Unwissenheit, Marig-pa, aus der heraus die unerwünschten Geistesqualitäten Gier, Hass und Verblendung als Resultat entstehen. In den vier Medizin-Tantras werden insgesamt 84.000 Geistesgifte definiert – demnach ist die Vielfalt verschiedener Krankheiten inklusive ihrer jeweiligen Symptome schier endlos.

Drei-Säfte-Lehre

Die Hauptlehre der tibetischen Medizin wird, abgesehen von der Lehre der fünf Elemente, als "Drei-Säfte-Lehre" definiert, auf Tibetisch als Nyes pa bezeichnet, und sie kann, vereinfacht dargestellt, als "aktive Verdichtung" der Elemente betrachtet werden. Die drei Körpersäfte, Galle, Wind und Schleim, sind allesamt Manifestationen verschiedener Elemente, denen infolge dessen auch unterschiedliche Krankheitsbilder und -ursachen zugrunde liegen. So reguliert Tripa, Manifestation des Elements Feuer, dem die Eigenschaften ölig, scharf und flüssig zugeschrieben werden, beispielsweise Körpertemperatur, Verdauung und Stoffwechsel.

Menschen mit Tripa-Störungen sind von Hass, Zorn, Aggression und Neid vergiftet und sind daher anfällig für Stoffwechselstörungen und sollten daher Lebensmittel, die zu viel Salz und Säure enthalten, meiden. Um typischen Tripa-Krankheiten, etwa Haarausfall, genereller Schwäche, faltiger Haut oder starkem Durst vorzubeugen, sollten Nahrungsmittel konsumiert werden, die den Tripa-typischen Charaktereigenschaften entsprechen: süß, schwer und ölig.

Das Wissen um die richtige Ernährung ist in der tibetischen Medizin essenziell, um den Körper gesund zu halten. Die richtige Kombination von Lebensmitteln, die Tripa (Galle), Lung (Wind) und Bad-kan (Schleim) in Einklang bringen, trägt maßgeblich zur Gesundheit und zur Förderung des langen Lebens bei.

Gymnastik und Ernährungsberatung

Die Diagnostik, die ein tibetischer Arzt vornimmt, kann den Patienten und Patientinnen, die an schulmedizinische Methoden gewöhnt sind, äußerst fremd vorkommen. Zur Diagnose werden zunächst nur Zunge, Urin und Puls analysiert. Bei der Pulsdiagnostik werden unterschiedliche Pulsfrequenzen und -arten an verschiedenen Stellen des Handgelenks analysiert, um die Zuordnung zu den jeweiligen Organen und ihren Krankheitsbildern herzustellen. Diagnostiziert wird unter Einbeziehung der fünf Sinne und der individuellen Erfahrung des Arztes – ohne Apparatur und medizinische Geräte.

Nachdem die Diagnose gestellt ist, gibt es vier verschiedene Behandlungsarten, die potenziell infrage kommen: Ernährungsberatung, Verhaltensberatung, Behandlung mit Naturheilmitteln und, als letzte Möglichkeit, äußere Behandlungsmethoden wie etwa Aderlass oder traditionelle Massage. Es können auch Atemtherapie, Gymnastik oder Akupunktur verordnet werden, um das harmonische Gleichgewicht der Seele und des Körpers der zu Behandelnden wiederherzustellen.

Tibetische Medizin als Alternative zur Schulmedizin?

Dies ist eine komplexe Fragestellung, die sich vermutlich nie objektiv lösen lassen wird. Was jedoch hierzu klar gesagt werden muss, ist, dass die TTM chemische Medikation längst nicht in allen Fällen ersetzen kann: Die Immunisierung des Körpers mit gewissen Impfungen und die Behandlung bakterieller Infekte mittels Antibiotika können beispielsweise nicht durch holistische Ansätze ersetzt werden.

Doch wen das Fieber gepackt hat, diese alternative Herangehensweise für kleine oder auch größere Wehwehchen an sich selbst auszuprobieren, dem kann dies, nach gründlicher Rücksprache mit Arzt oder Ärztin, als Motivation zu weiterer Recherche zum Thema dienen. Denn oft ist es die Erfahrung selbst, die die Rolle übernimmt, einen zu inspirieren, nachhaltige Veränderungen – sei es im eigenen Geiste, in der (Un-)Regelmäßigkeit der eigenen sportlichen Aktivität oder in der Ernährungsweise – vorzunehmen und diese weiterzutragen. (Cosima Rudigier, 10.10.2022)