Es riecht nach Sommerregen, aber mehr als ein paar Tropfen fallen an diesem Augustnachmittag in der Wiener Innenstadt nicht. Zwei Dutzend Personen haben sich unter einer Platane versammelt, gleich beim Denkmal des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. Der Ort ist nicht zufällig gewählt: Lueger, der rabiate Antisemit, machte Anfang des 20. Jahrhunderts mit Judenhetze Politik, Hitler zollte ihm später Respekt dafür. Neben dem steinernen Lueger soll an diesem Nachmittag an 967 Menschen erinnert werden.

Eine Mauer mit 65.000 Namen erinnert in Wien-Alsergrund an die österreichischen Opfer der Shoah. Viele wurden vor genau 80 Jahren deportiert – auch die Urgroßeltern des Autors.
Foto: Corn

Einige der Anwesenden sind aus Israel angereist, andere aus Deutschland, England, den USA. Aber in gewisser Weise kommen die meisten aus Wien, die hier zusammenstehen. Sie sind Angehörige der fast tausend Frauen, Männer und Kinder, die genau 80 Jahre zuvor vom Wiener Aspangbahnhof in das von Deutschland besetzte Belarus deportiert und nach Ankunft in einem Waldstück bei Minsk ermordet worden sind. Nur eine einzige Frau aus dem Transport Nr. 39, Zug Da 225, überlebte.

Neun Züge aus Wien

Bis heute ist der Name dieses Ortes, an dem die Nationalsozialisten nahezu 10.000 österreichische Jüdinnen und Juden ermordeten, kaum bekannt: Maly Trostinec. Zwischen Mai und Oktober 1942 rollten aus Wien neun Deportationszüge in diese Vernichtungsstätte knapp zwölf Kilometer südöstlich von Minsk. Von den allein im Jahr 1942 fast 8700 dorthin verschleppten Österreicherinnen und Österreichern überlebten 17. Meine Urgroßeltern Lea und Pinkas Rennert waren nicht darunter. Sie wurden gemeinsam mit Hunderten anderen am 5. Oktober 1942 aus Wien nach Maly Trostinec deportiert, vier Tage später waren sie tot. Erschossen oder vergast, das weiß ich nicht.

Unter dem wolkenverhangenen Augusthimmel werden Namen und Alter der 967 Menschen aus dem Transport 39 verlesen, die fünf Wochen vor meinen Urgroßeltern an den Vernichtungsort gebracht worden waren. Später erfahre ich, dass wahrscheinlich sogar exakt tausend Personen in dem Zug waren. Die Nazis mochten runde Zahlen.

Lea und Pinkas Rennert (1920) lernten sich in der Bukowina kennen und zogen nach Wien.
Foto: Privatarchiv Rennert

Wir hören die Namen von Zwillingsschwestern, von Frauen, Männern, Kindern. Ein elf Monate altes Baby ist darunter. Es ist erschütternd, berührend, aber auch langatmig. Wie lange dauert es, so viele Namen laut zu lesen? Nach einer Stunde bemerke ich erschrocken meine wachsende Ungeduld.

Es ist eine von insgesamt 27 Veranstaltungen, bei denen der Verein "IM-MER – Maly Trostinec erinnern" namentlich aller Jüdinnen und Juden gedenkt, die 1942 aus Wien verschleppt wurden. Die Tausenden von Namen wurden zuvor einzeln handschriftlich auf Karten geschrieben, um jeweils zum 80. Jahrestag der Deportation verlesen zu werden. Das öffentliche Aussprechen soll die Dimension dieser Verbrechen verdeutlichen, sagt Waltraud Barton, die Gründerin des Vereins. In den Nachmittagsstunden unter der Platane auf dem Karl-Lueger-Platz gelingt das, auch wenn es nur wenige Zuhörer gibt.

Ein unfassbarer Ort

Maly Trostinec war für mich lange ein abstraktes Wort. Als Kind habe ich zum ersten Mal davon gehört, die Namen meiner verschollenen Urgroßeltern waren in den 1990er-Jahren auf einer Deportationsliste aufgetaucht. Das Datum der Ankunft, der 9. Oktober 1942, so erfuhr meine Familie vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, war mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Todesdatum: Maly Trostinec war kein Konzentrationslager, es war eine Mordstätte, auf sofortige Vernichtung ausgelegt. Wer den Transport dorthin überlebt hatte, wurde unmittelbar nach der Ankunft umgebracht.

Was genau war dort passiert, wie sollte ich mir das vorstellen? Nachgefragt habe ich damals nicht. Kinder merken oft sehr genau, welche Themen belastend für ihre Eltern sind. Bis ich mich selbst auf die Suche nach Antworten machte, dauerte es noch.

Aus der Bukowina nach Wien

Mein Urgroßvater Pinkas Rennert wurde 1894 in Putna im habsburgischen Kronland Bukowina geboren. Zwei Jahre später kam in der nahegelegenen Stadt Radautz Lea Dlugacz zur Welt. Beide Orte liegen heute in Rumänien, nur wenige Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Wie ihre Geschwister besuchten die beiden Kinder aus jüdischen Familien das deutschsprachige Gymnasium in Radautz und lernten sich dort kennen. Nach ihrer Hochzeit ließen Lea und Pinkas Rennert die Bukowina bald hinter sich – wie so viele junge Menschen aus den österreichischen Kronländern zog es sie in die Metropole Wien.

Lea arbeitete in Wien für eine große Versicherungsgesellschaft, Pinkas begann ein Jusstudium. In den 1920er-Jahren kamen die beiden Kinder Silvia und Erwin – mein Großvater – zur Welt. Um Geld zu verdienen, unterbrach Pinkas das Studium und übernahm Vertretungen für Metallwarenhersteller, die Familie mietete eine Wohnung in der Heumühlgasse im vierten Wiener Gemeindebezirk. Aufgeben wollte Pinkas die Juristerei nicht, 1936 schrieb er sich wieder an der Universität Wien ein. Doch dann kam der "Anschluss", die Eingliederung Österreichs in das nationalsozialistische Deutschland im März 1938. Die systematische Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, die in Deutschland seit 1933 schrittweise vollzogen wurde, ging in Österreich nun blitzartig vonstatten.

Ausschreitungen gegen jüdische Studierende der Wiener Universität, vor allem durch deutschnationale Burschenschafter, hatten schon die 1920er-Jahre geprägt, antisemitische Netzwerke in der Professorenschaft hatten gezielt die Karrieren jüdischer Kollegen behindert. Nun aber sollte die Universität gänzlich "judenfrei" werden: Die "Säuberung" des Lehrkörpers erfolgte im April 1938, ab November war Jüdinnen und Juden das Studium an Hochschulen generell untersagt.

In den Schulen ging der Ausschluss nicht langsamer voran. Schon Wochen nach dem "Anschluss" durften Erwin und Silvia ihre Klassen nicht mehr besuchen. Jüdische Kinder und Jugendliche wurden vorübergehend in sogenannte Sammelschulen gesteckt, bis auch diese aufgelassen wurden.

Gelernt wurde in der Familie nur noch zu Hause: Englisch, als Vorbereitung auf eine erhoffte Ausreise. Doch es fehlten Geld und Visa, während die Schlangen vor den Konsulaten immer länger wurden. Die Novemberpogrome, in Wien von Teilen der Bevölkerung besonders tatkräftig unterstützt, verschärften die Lage weiter. Lea und Pinkas Rennert setzten alles daran, zumindest die Kinder in Sicherheit zu bringen.

Eltern ohne Visa

Mit großem Aufwand gelang es spät, aber doch, amerikanische Visa zu bekommen. Ein Cousin der Mutter, der mit seiner Frau in New York lebte, konnte die notwendigen Dokumente für die Einreise der Kinder auftreiben. Das kinderlose Ehepaar in den USA erklärte sich auch bereit, die beiden vorerst bei sich aufzunehmen. Für Lea und Pinkas sah es aber nicht gut aus: US-Visa wurden nach einer Quotenregelung vergeben, die sich nach dem jeweiligen Geburtsland richtete. Der Antrag für die in Wien geborenen Kinder ging durch, sie selbst fielen aber nun unter die bereits völlig überbelegte rumänische Quote, da ihre Geburtsorte in der Bukowina inzwischen zu Rumänien zählten.

"Wir hoffen, durch die Kinder vielleicht außer normaler Quote einreisen zu können, und könnten schon im nächsten Jahr dort sein", schrieb Pinkas im August 1939 an die Verwandten in New York, die er selbst gar nicht kannte. Eines stehe fest: "Dass die Kinder wegmüssen und dass ich nur hoffen will, dass noch Zeit ist, sie wegzuschicken."

Familienfoto 1938: Lea, Erwin, Pinkas und Silvia Rennert (v. links).
Foto: Privatarchiv Rennert

Erwin war inzwischen dreizehn geworden, seine Schwester Silvia war 16. Wie schwer die bevorstehende Trennung für die Eltern war, lässt sich in einigen Briefen nachlesen, die erhalten geblieben sind. "Glaubet mir, ich werde wahnsinnig beim Gedanken, dass ich sie hergeben muss, denn mit ihnen wird der Sinn unseres Lebens weg sein", schrieb Lea.

Knapp entkommen

Dass die Ausreise der Kinder überhaupt noch gelang, grenzte an ein Wunder: Als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel und den Zweiten Weltkrieg entfesselte, saßen Erwin und Silvia noch in Wien. Erst Mitte Oktober hatten sie alle nötigen Papiere und die Schiffskarten für die Überfahrt von Triest nach New York beisammen. "Zwei Monate nach Kriegsbeginn, am Abend des 31. Oktober 1939, nahmen wir am Wiener Südbahnhof, für immer, wie sich später herausstellen sollte, Abschied von unseren Eltern", schrieb mein Großvater Erwin sechs Jahrzehnte später in seinen Lebenserinnerungen ("Der Welt in die Quere", Edition Exil, 2000). Das faschistische Italien war noch nicht in den Krieg eingetreten, nur deshalb konnte die Flucht so spät stattfinden.

In Wien schrieb Pinkas indes wieder einen Brief nach New York. "Meine Kinder sind unterwegs zu Euch. Wenn der Trennungsschmerz auch unausdenklich ist und wir keinen Feinden wünschen können, in die Lage zu kommen, Kinder in diesem Alter aus dem Elternhause weggeben zu müssen, so sind wir doch sehr glücklich, dass wir so weit sind, denn wir wissen nicht, was uns selbst der nächste Tag bringt."

Leicht hatten es natürlich auch die Kinder nicht, die ersten Jahre in den USA waren besonders schwer. Silvia und Erwin schlugen sich durch. Was ich darüber weiß, verdanke ich den erwähnten Erinnerungen meines Großvaters, der lange kaum über seine Kindheit sprach, sich dann aber dazu entschied, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Ich bin dafür sehr dankbar.

Frühstück am Wannsee

Wie es mit meinen Urgroßeltern in Wien weiterging, lässt sich noch ein Stück weit aus den erhaltenen Briefen herauslesen, wobei sie über ihre eigene Lage kaum mehr als kleine Andeutungen machten. "Wir leben sehr einsam, da alle unsere Bekannten fort sind", schrieben sie im März 1940 und hofften weiterhin, doch ein US-Visum zu bekommen oder nach Palästina ausreisen zu können. Der letzte erhaltene Brief ist vom Oktober 1941. Im Dezember erklärte Hitler den USA den Krieg, damit riss auch die Postverbindung ab.

Als sich Vertreter und hohe Beamte des NS-Regimes im Jänner 1942 zu einer "Besprechung mit anschließendem Frühstück" am Berliner Wannsee trafen, war die Shoah schon voll im Gange. Hunderttausende Jüdinnen und Juden in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten in Polen und der Sowjetunion waren bereits ermordet worden. In der Wannseekonferenz ging es nun darum, die Deportation aller europäischen Juden in den Osten und ihre systematische Vernichtung möglichst effizient zu organisieren. Eine wichtige Rolle im Mordsystem sollte dem sogenannten Reichskommissariat Ostland zukommen, das nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 aus dem Baltikum und Teilen von Belarus gebildet wurde.

Lokale Vernichtungsstätten

Schon im Herbst 1941 gab es Pläne, auf belarussischem Boden ein großes Vernichtungslager zu errichten. Das Vorhaben scheiterte letztlich, die schon bestellten Öfen für die Krematorien wurden nach Auschwitz-Birkenau geschickt. Statt einer zentralen Mordfabrik wurden etliche lokale Vernichtungsstätten etabliert, die größte davon sollte Maly Trostinec werden. Wann genau die Wahl auf dieses Dörfchen neben der ehemaligen Kolchose "Karl Marx" nahe Minsk fiel, ist nicht geklärt. Ausschlaggebend dürften aber zwei Faktoren gewesen sein: dichte Wälder und ein stillgelegtes Eisenbahngleis in unmittelbarer Nähe.

Im Wald von Maly Trostinec, dem Todesort unzähliger Menschen, erinnern Schilder an die Ermordeten. Angebracht wurden sie bei Gedenkreisen des Vereins IM-MER.
Verein IM-MER

Während die Kolchose zu einem Landgut mit Zwangsarbeitslager ausgebaut werden sollte, wurden in einer schwer einsehbaren Waldlichtung Gruben ausgehoben. Der erste zweifelsfrei nachgewiesene Massenmord fand dort am 11. Mai 1942 statt, wie die deutsche Historikerin Petra Rentrop rekonstruierte.

Die Opfer kamen aus Wien, der Zug Da 201 hatte den Aspangbahnhof fünf Tage zuvor verlassen. Der SS-Mann Gerhard Arlt vermerkte dazu in seinem Tätigkeitsbericht: "Am 11. Mai traf ein Transport mit Juden (1000 Stück) aus Wien in Minsk ein und wurde gleich vom Bahnhof zur obengenannten Grube geschafft. Am 13. 5. beaufsichtigten 8 Mann die Ausgrabungen einer weiteren Grube, da in nächster Zeit abermals ein Transport mit Juden aus dem Reich hier eintreffen soll."

Umgebaute Lkws

16 Deportationszüge mit mehr als 15.000 Menschen kamen zwischen Mai und Oktober 1942 an, neun davon aus Wien, fünf aus Theresienstadt, einer aus Königsberg und einer aus Köln. Bald stiegen die Deportierten nicht mehr in Minsk aus dem Zug, sondern wurden durch eine Anbindung des Gleises direkt nach Maly Trostinec gebracht.

Die meisten wurden sofort nach Ankunft von Angehörigen der sogenannten "Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD" an den Gruben erschossen. Spätestens ab Juni 1942 wurden aber auch Gaswagen als Mordwerkzeuge eingesetzt: umgebaute Lkws, in deren abgedichtete Laderäume Auspuffgase eingeleitet wurden, um Menschen zu ersticken.

Bild nicht mehr verfügbar.

47.035 Menschen wurden vom ehemaligen Wiener Aspangbahnhof deportiert.
Foto: Picturedesk

Der letzte Deportationszug nach Maly Trostinec verließ Wien am 5. Oktober 1942, und mit ihm Lea und Pinkas Rennert. Abgefahren waren sie in einem Personenwagen der dritten Klasse, vier Tage später kamen sie in einem Viehwaggon an. Es sind die letzten Details aus ihrem Leben, die ich mit einiger Sicherheit kenne: Nach der Fahrt durch Polen wurden sie in Wolkowysk (Ankunft am 7. Oktober um 16.35 Uhr) mit 545 anderen unfreiwilligen Passagieren, darunter 14 Kinder unter zwölf Jahren, "umverladen"; Personenwagen gab es nur noch für die Wachmannschaft. Am 9. Oktober, laut Fahrplan um 4.37 Uhr, erreichten sie die Endstation.

Hatten sie ausreichend Verpflegung für die viertägige Fahrt mitgehabt oder waren sie schon völlig geschwächt angekommen? Starben sie gemeinsam oder wurden sie getrennt? Wurden sie erschossen oder in einen der Gaswagen gepfercht? Wer waren ihre Mörder? Ich wüsste es gerne, auch wenn es kaum einen Unterschied macht. In Archiven, Akten und Dokumenten habe ich über die Jahre nach Hinweisen gesucht, die Aufschlüsse über ihre letzten Stunden und Minuten geben könnten. Nachzuforschen erscheint mir das Einzige, was ich für sie tun kann. Ausgelöscht ist nur, wer vergessen wird.

Ein Täter erzählt

Konkrete Spuren der beiden habe ich keine mehr gefunden. Dafür aber, neben einigen wenigen Überlebendenberichten, umfangreiche Aussagen von Tätern. Besonders ergiebig waren Akten aus bundesdeutschen Gerichtsprozessen nach dem Krieg, die die nationalsozialistischen Verbrechen in Belarus zum Gegenstand hatten. Nur ein einziger solcher Prozess fand in Österreich statt. Und wie sich bei meinen Recherchen dazu herausstellte, war der Angeklagte möglicherweise auch an jener Mordaktion in Maly Trostinec beteiligt, der meine Urgroßeltern zum Opfer fielen.

Mit dem 1970 geführten Prozess gegen den Wiener SS-Mann Josef Wendl habe ich mich vor Jahren in einer wissenschaftlichen Arbeit an der Universität Wien genauer befasst. Dabei taten sich nicht nur Blicke in die monströsen Abgründe der NS-Verbrechen auf, die in Maly Trostinec und anderen Vernichtungsstätten im "Ostland" begangen wurden. Der Fall zeigt auch beispielhaft, wie die österreichische Justiz bei der Ahndung dieser Verbrechen versagte.

Wendl, ein gelernter Friseur, war schon 1931 in die NSDAP und 1933 in die SS eingetreten, nach dem "Anschluss" arbeitete er erst als Fahrer, dann als Fahrdienstleiter für die Gestapo in Wien. Anfang 1942 wurde er zum "Osteinsatz" in Belarus abkommandiert. Seine Aufgabe: Er sollte als Gaswagenfahrer beim Einsatzkommando 8 der Einsatzgruppe B am Massenmord mitwirken. Das tat er auch, wie er später erstaunlich offen zugab. Als sein Name Anfang der 1960er-Jahre bei Ermittlungen gegen Angehörige der Einsatzgruppen in der BRD auftauchte, stellten die deutschen Behörden ein Rechtshilfeansuchen an die österreichische Staatspolizei: Wendl sollte als Zeuge einvernommen werden. Bei seinen Aussagen zeigte er sich auskunftsfreudig. Er belastete nicht nur seine ehemaligen Vorgesetzten schwer, sondern auch sich selbst.

"Einsatz" in Maly Trostinec

Wendl gestand, an verschiedenen Orten in Belarus als Gaswagenfahrer an Massenmordaktionen beteiligt gewesen zu sein. Verantwortlich fühlte er sich für diese Taten nicht, wie aus seinen Aussagen hervorgeht. "Wenn ich gefragt werde, wie viele Einsätze ich mit dem G-Wagen durchgeführt habe, so kann ich heute keine genaue Zahl mehr angeben", heißt es in einer Befragung 1964. "Mit Sicherheit weiß ich, dass bei allen Aktionen Männer, Frauen und Kinder jeglichen Alters in die G-Wagen getrieben wurden." 60 bis 70 Personen, so schätzte er, hatten in seiner mobilen Mordmaschine Platz.

Wendl schilderte detailliert, wie die Morde mittels Auspuffgas abliefen. Und er erinnerte sich auch an einen "Einsatz" in Maly Trostinec im Herbst 1942, bei dem österreichische Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Er selbst habe an diesem Tag "zwei Ladungen" vom Güterzug abgeholt und in das Waldstück gebracht, die Menschen seien dann direkt an der Grube vergast worden.

"Ich kann mit Sicherheit sagen, dass es sich um Reichsjuden gehandelt hat, denn ich erinnere mich, dass ich mich mit einer jüdischen Frau unterhalten habe, die aus Wien stammte. Auf Grund meiner Aussprache merkte diese Jüdin, dass ich Wiener bin. Sie meinte noch, da sie von Landsleuten empfangen würde, könne ihr nichts passieren." An das genaue Datum dieser "Aktion" konnte sich Wendl nicht mehr erinnern, fest steht aber: Es muss sich um einen der letzten beiden Deportationszüge aus Wien gehandelt haben. Davor war Wendl nämlich mehrere Wochen auf Urlaub.

Freispruch für den Gaswagenfahrer

1965 leitete die Staatsanwaltschaft Wien ein Strafverfahren ein, 1970 wurde Wendl schließlich wegen Mordes angeklagt. Zur Last gelegt wurde ihm die Vergasung von etwa 300 jüdischen Männern, Frauen und Kindern in Minsk, Maly Trostinec und Mogilew in den Jahren 1942 und 1943. Wendl schwächte nun seine früheren Aussagen zwar ab, leugnete die Taten aber nicht generell. Seine Beteiligung an den Morden stand auch für die Geschworenen außer Zweifel. Freigesprochen wurde er trotzdem.

Der Prozess drehte sich von Beginn an weniger um die Opfer und Wendls Rolle im Mordsystem als um die Frage, ob er eine andere Wahl gehabt hätte, als die Morde mit dem Gaswagen durchzuführen. Seine Verteidigung stützte sich, wenig überraschend, auf den sogenannten Befehlsnotstand.

Blühte den Angehörigen der Einsatzgruppen Hinrichtung oder KZ, wenn sie sich weigerten, bei den Mordaktionen mitzumachen? Kein einziger solcher Fall ist bekannt. Gutachten deutscher Sachverständiger verneinten dies auch im Prozess gegen Wendl klar, die Geschworenen wiesen das Argument Befehlsnotstand ebenfalls mehrheitlich zurück. Sie gestanden Wendl allerdings einstimmig zu, er habe irrtümlich geglaubt, unter Zwang zu handeln. Dass sie ihn damit freisprachen, war den Laienrichtern aber nicht bewusst, wie sich am Ende herausstellte: Sie waren schlecht aufgeklärt worden.

Das Gericht setzte den Wahrspruch dennoch nicht aus, sondern sprach Wendl frei. Die Staatsanwaltschaft legte Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil ein, zog diese aber bald wieder zurück – auf Druck von oben.

Fehlende Anklagen, skandalöse Urteile

Der Fall Wendl war keine Anomalie in der österreichischen Nachkriegsjustiz. Von insgesamt 48 Anklagen in 35 Prozessen wegen NS-Tötungsverbrechen zwischen 1955 und 1975 endeten 23 mit Freisprüchen, fünf mit Verfahrenseinstellungen und nur 20 mit rechtskräftigen Verurteilungen. Das bis heute letzte rechtskräftige österreichische Urteil wegen NS-Verbrechen fiel 1975 im Prozess gegen Johann Gogl, angeklagt wegen Folter und Mordes an KZ-Häftlingen in Mauthausen und Ebensee: Freispruch.

Dass Geschworenengerichte für die Ahndung von NS-Verbrechen ungeeignet waren, zeigten viele skandalöse Freisprüche. In noch viel mehr Fällen kam es gar nicht erst zur Anklage. Wie Oscar Bronner, Gründer und Herausgeber des STANDARD, 1965 aufdeckte, standen indes zahlreiche nationalsozialistisch belastete Richter und Staatsanwälte im Dienst der Zweiten Republik.

Späte Erinnerung

Als mein Großvater Erwin Rennert Anfang 1945 als 18-jähriger Soldat der US Army erstmals nach Europa zurückkehrte, hatte es schon lange kein Lebenszeichen mehr von seinen Eltern gegeben. Er bekam Sonderurlaub, um in Wien nach ihnen zu suchen – wie erwartet fand er keine Spur. Es sollte viele Jahre dauern, bis er und seine Schwester Silvia den Namen Maly Trostinec hörten.

Ausschnitt der Shoah-Namensmauer im Ostarrichipark in Wien-Alsergrund. Pinkas und Lea Rennert sind dort beide verewigt – ihre Namen stehen aber leider nicht beisammen.
Foto: Corn

Obwohl nur in Auschwitz-Birkenau mehr österreichische Jüdinnen und Juden ermordet wurden als in der Vernichtungsstätte bei Minsk, blieb Maly Trostinec erstaunlich lange unterbelichtet, auch in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung. Von der öffentlichen Wahrnehmung ganz zu schweigen.

Es ist vor allem Waltraud Barton vom Verein IM-MER zu verdanken, dass sich das in den vergangenen Jahren langsam geändert hat. Bei Nachforschungen zu ihrer eigenen Familiengeschichte war Barton auf den Vernichtungsort gestoßen, von dem sie bis dahin nichts gewusst hatte: Vier ihrer Verwandten sind in Maly Trostinec ermordet worden, Malvine Barton sowie Rosa, Viktor und Herta Ranzenhofer. "Als ich dann herausgefunden habe, wie viele Tausende österreichische Juden und Jüdinnen dort hingekommen sind, hat mir das einfach keine Ruhe mehr gelassen", sagt Barton.

Waltraud Barton, die Gründerin des Vereins IM-MER, neben einem Erinnerungsschild in Maly Trostinec für ihre ermordete Angehörige Malvine Barton.
Foto: Verein IM-MER

"Das Monströse begann hier"

Sie gründete einen Verein, organisierte Gedenkreisen nach Maly Trostinec, initiierte 2011 die erste Konferenz zu den österreichischen Opfern der Shoah in Belarus und setzte sich jahrelang für die Errichtung einer Erinnerungsstätte ein. Mit Erfolg: 2019 wurde in Maly Trostinec ein Mahnmal für die ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden eröffnet.

Heute gehe es ihr aber nicht nur um den fernen Ort, der zur Endstation für so viele wurde, sondern auch um Wien. "Das unfassbar Monströse begann nicht in Maly Trostinec, sondern in Wien. Hier wurden diese Menschen ausgegrenzt, ausgeschlossen und in die Deportationszüge gezwungen", sagt Barton. "Wie kann es sein, dass sich jahrzehntelang niemand gefragt hat, wo sind unsere Nachbarn hingekommen? Warum hat das niemanden interessiert?" Auch deshalb sei es ihr so wichtig gewesen, die Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag der Deportationen in Wien zu organisieren.

Auf dem Karl-Lueger-Platz in der Wiener Innenstadt sind inzwischen ein paar Passantinnen und Passanten stehengeblieben. Eine Frau erkundigt sich interessiert, worum es geht. Von Maly Trostinec, sagt sie, habe sie noch nie etwas gehört. (David Rennert, 9.10.2022)