Reservisten werden vereidigt.

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An der georgischen Grenze werden alle Russen kontrolliert.

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"Ich saß am Abfluggate des Moskauer Flughafens Domodedowo. Mir zerriss es die Seele. Wer hätte gedacht, dass ich in Friedenszeiten mein geliebtes Land und damit meine geliebten Menschen, meine Familie, meine Freunde und meine Stadt verlassen müsste", erzählt Kolja dem STANDARD. "Ich saß da und weinte, konnte kaum die Tränen zurückhalten."

Kolja ist Offizier der Reserve, lebt in Moskau, ist aber in der russischen Provinz registriert. Dort, wo gerade besonders viele Reservisten eingezogen werden. "Quasi von der Straße weg", hatte ihm seine Schwester erzählt. "Der Plan, über die Grenze nach Polen in die EU zu fliehen, wurde innerhalb weniger Stunden gefasst", berichtet Kolja. Von Moskau flog er in die russische Exklave Kaliningrad, von dort ging es mit dem Auto weiter über die polnische Grenze in Sicherheit.

Flucht gelingt immer seltener

Kolja hatte doppelt Glück. Er besitzt ein Schengen-Visum, konnte in die EU einreisen. Und die russische Grenze war noch nicht dicht für flüchtige Reservisten. Das hat sich inzwischen an vielen Orten geändert. An der Grenze zum Nachbarland Georgien haben die russischen Behörden eigenen Angaben zufolge bereits mehr als 180 wehrpflichtige Männer bei der Ausreise gestoppt. Ihnen sei direkt am Grenzübergang Werchni Lars ein Einberufungsbescheid übergeben worden, meldete die Nachrichtenagentur Interfax.

An den Grenzen Russlands zu Lettland und Estland bilden sich immer wieder lange Autoschlagen. Dort würden inzwischen mobile Einberufungsstellen eingesetzt, schreibt der Gouverneur der Region Pskow, Michail Wedernikow, auf Telegram. Vielen Flüchtigen ist der Weg über Polen oder die baltischen EU-Länder versperrt, weil die Behörden kaum noch Visa ausstellen oder selbst Russen mit gültigem Visum nicht mehr einreisen lassen.

Diskussion über Asyl

Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser stellte den Flüchtigen Asyl in Aussicht. Frankreich will wie Österreich bei der Visavergabe an russische Kriegsdienstverweigerer im Einzelfall entscheiden. Die baltischen Staaten und Polen hingegen lehnen die Aufnahme dieser Menschen strikt ab. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis schrieb auf Twitter, dass sein Land jenen, "die nur vor der Verantwortung davonlaufen", kein Asyl gewähren werde. "Die Russen sollten bleiben und kämpfen. Gegen Putin."

Bleibt der Weg in Länder wie die Türkei, Armenien, Kasachstan oder Usbekistan. Dort können Russen ohne Visum einreisen, sofern man ein Ticket bekommt. Denn viele Flüge sind ausgebucht, in der Woche nach der Ankündigung der Teilmobilisierung stieg die Zahl der One-Way-Buchungen in Russland um 27 Prozent.

Viele Fehler bei der Einberufung

Offiziell lässt das russische Verteidigungsministerium 300.000 Reservisten einziehen. Mehr werden vielleicht folgen. Sie sollen nach zahlreichen Niederlagen der Armee die besetzten Gebiete in der Ukraine halten. Präsident Wladimir Putin betonte, dass die Einberufenen ein militärisches Training durchlaufen müssten. Eingezogen werden sollten Reservisten mit militärischem Spezialwissen und Erfahrung.

Doch die Teilmobilisierung geriet für den Kreml zu einem Desaster, das selbst Kreml-Sprecher Dmitri Peskow überraschte. Er kann sich die Resonanz der Russen, die die Ankündigung der Mobilisierung verursacht hat, "nicht erklären". Die Reaktion sei "hysterisch und hochemotional", teilte Peskow der regierungsnahen Nachrichtenagentur Ria Nowosti mit.

Putin sagt, es müssten alle Fehler bei der Einberufung von Reservisten "korrigiert" werden. Viele Reservisten beklagen, dass sie etwa trotz chronischer Erkrankungen oder hohen Alters und anderer Ausschlusskriterien zum Kriegsdienst eingezogen würden. Wer fehlerhaft an die Front geschickt worden sei, müsse nach Hause zurückkehren, so Putin. Das gelte auch für Väter kinderreicher Familien. Der Kreml-Chef forderte die Generalstaatsanwaltschaft auf, die Verstöße gegen die Mobilmachung zu verfolgen.

260.000 Flüchtlinge

Putins Kritik an der Durchführung der Teilmobilmachung zeigt Wirkung. Nach offiziellen Angaben kehren immer mehr eingezogene Reservisten zu ihren Familien zurück. Im Gebiet Chabarowsk, im äußersten Osten Russland, betonte Gouverneur Michail Degtjarjow, dass von "einigen Tausend" Einberufenen inzwischen die Hälfte zurückgekehrt seien. Sie waren demnach eingezogen worden, obwohl sie nicht den Kriterien entsprachen. "Der Militärkommissar des Chabarowsker Gebiets, Juri Lajko, ist von seinen Pflichten entbunden worden", so Degtjarjow. Wie es zu den Fehlern kommen konnte, erklärte der Gouverneur nicht.

Trotz aller Nachjustierung seitens des Kreml: Die Massenflucht aus Russland geht weiter. Die Online-Zeitung "Nowaja Gaseta" geht von über 260.000 Flüchtlingen aus. Datenjournalisten der Zeitung haben die unterschiedlichen Einberufungsquoten in den verschiedenen Regionen recherchiert. Im reichen Sankt Petersburg sind es gerade einmal 0,27 Prozent aller Reservisten zwischen 18 und 50 Jahren. In Moskau, wo es Proteste gegeben hat, würden nur 0,61 Prozent einberufen werden. In ärmeren Regionen dagegen, etwa der entlegenen Teilrepublik Burjatien im Fernen Osten, seien es 3,19 Prozent.

Destination Mongolei

Reservisten in Burjatien würden ihre Arbeit aufgeben und in großen Scharen in die benachbarte Mongolei fliehen, wobei sie ihre Familien in Russland zurücklassen, berichtet die "Nowaja Gaseta". In den sozialen Medien werden verschiedene Videos geteilt, in denen Männern geraten wird, in ihren Häusern zu bleiben, ihre Türen verschlossen zu halten.

"Das ist keine Teilmobilisierung. In manchen Familien wurden alle Brüder eingezogen. Sie stellen jedem eine Karte aus, einschließlich Personen, die ihren Wehrdienst nie abgeleistet haben. Sie rekrutieren Männer mit fehlenden Fingern, und sie rekrutieren Alte. Sie haben sogar versucht, einen Mann einzuziehen, der seit zwei Jahren vermisst wird, und einen Mann, der buchstäblich tot ist", sagt Wiktoria Maladjewa von der Organisation Free Buryatia.

Kolja und seine Freunde

Kolja ist inzwischen in Deutschland angekommen, täglich liest er auf Facebook die Posts seiner Freunde Konstantin und Roman. Die beiden leben inzwischen im usbekischen Samarkand. "Am Tag nach der Ankündigung der Mobilisierung kamen die Vertreter der Militärregistrierungsstelle zu Roman auf die Arbeit", schreibt Konstantin. "Einer ging zum Direktor des Unternehmens und gab ihm 54 Vorladungen, die bereits im Voraus unterzeichnet waren, und sagte: Gib das hier deinen Untergebenen." Die Liste enthielt Menschen, die nie gedient hatten, Verheiratete mit kleinen Kindern, 45-Jährige, so Konstantin. "Roman kam voller Entsetzen von der Arbeit, wir kauften Tickets über Freunde und flogen am 26. September nach Usbekistan."

Neben Usbekistan ist die Ex-Sowjetrepublik Kasachstan eines der Fluchtziele von Reservisten, die der Einberufung entgehen wollen. Nach Kasachstan sind seit Beginn der Ankündigung der teilweisen Mobilisierung mehr als 200.000 Russen eingereist, sagt der kasachische Innenminister Murat Achmetdschanow. Die Regierung hat die Kasachen aufgefordert, die Neuankömmlinge gastfreundlich aufzunehmen – und nicht Profit zu schlagen aus ihrer Notlage. Kasachische Medien berichteten, dass es überall Hilfsangebote gebe.

Kein Ende in Sicht

Kolja sitzt an seinem Fenster, irgendwo in einer deutschen Stadt. Das Zimmer, das er jetzt bewohnt, hat er sich gemütlich gemacht. Die Kämpfe in der Ukraine werden wohl noch viele Monate dauern, befürchtet er. Und vor dem Ende der "Spezialoperation" will Kolja nicht zurück in seine Heimat. "Ich habe sehr viel Mitgefühl mit den Leuten, die jetzt eingezogen werden", sagt er. "Es tut mir leid für ihre Mütter, Frauen und Kinder. Ich erinnere mich, wie verkrüppelt die Jungs nach dem Tschetschenien-Krieg zurückkamen. Und ich habe Angst, mir vorzustellen, was als Nächstes passieren könnte." (Jo Angerer aus Moskau, 11.10.2022)