Walter Rosenkranz konnte nur 70 Prozent der FPÖ-Anhänger überzeugen – 15 Prozent von ihnen wählten Gerald Groß

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Warum wohl manche Leute Heinrich Staudinger gewählt haben? Man kann es vermuten – mit demoskopischen Methoden lässt es sich aber nicht deuten. Das musste der Meinungsforscher Peter Hajek feststellen, der im Auftrag von ATV 1200 Wahlberechtigte nach ihren Motiven gefragt hat. In seiner repräsentativ gezogenen Stichprobe fanden sich zu wenige Staudinger-Wähler, um sinnvoll Inhalte zu erheben. Dasselbe gilt für die Wählerschaft des MFG-Chefs Michael Brunner.

Ganz anders am oberen Spektrum der Kandidatenliste: Die in den fünf Tagen vor dem Wahltag durchgeführte Befragung ergibt klar, warum die Wählerschaft Alexander Van der Bellen bestätigt sehen wollte. 45 Prozent erklärten, dass der amtierende Bundespräsident der beste Kandidat sei und andere nicht wählbar seien.

Und ja: Auch Dankbarkeit ist eine politische Kategorie. 39 Prozent der Wähler Van der Bellens lobten, dass er seine Sache bisher gut gemacht habe, und elf Prozent erinnern sich daran, dass er mit ruhiger Hand durch Krisen geführt habe.

Negative Stimmung im Land

"Stabilität gewinnt", sagt Hajek. Darauf deutet auch hin, dass Pensionistinnen und Pensionisten in besonderem Maße den Amtsinhaber gewählt haben. Aber Stabilität ist bei weitem nicht für alle Wählerinnen und Wähler der wichtigste Faktor für eine Wahlentscheidung. Der Wahlforscher Peter Filzmaier analysierte im ORF (unter Berufung auf Daten von Isa/Sora), dass rund zwei Drittel der Wahlberechtigten die Entwicklung Österreichs negativ einschätzen – dafür wurde im Wahlkampf (nicht nur, aber vor allem) von Walter Rosenkranz "das System" verantwortlich gemacht. Und Van der Bellen steht eben dafür, dass sich eher wenig ändert und die derzeit recht unbeliebte ÖVP-Grünen-Koalition an der Regierung bleibt.

Daher haben viele Leute am Sonntag nicht für einen Kandidaten gestimmt, sondern gegen die Regierung: 28 Prozent der von Hajek Befragten sagten, dass der neu gewählte Bundespräsident die Bundesregierung entlassen und Neuwahlen ausrufen sollte, weitere elf Prozent wünschen sich, dass die Regierung Nehammer entlassen und jemand anderer mit der Regierungsbildung beauftragt werde. Nur 47 Prozent sagen klar, dass der Bundespräsident die Regierung nicht entlassen sollte – dies sind laut Hajek vor allem die Wähler von Van der Bellen und Dominik Wlazny.

Hajek verweist darauf, dass die Motive der Nichtwählerinnen und Nichtwähler von Frustration geprägt sind: 23 Prozent der am Sonntag Daheimgebliebenen sagten, dass sie politikverdrossen seien, elf Prozent nannten "keine Lust" als Motiv ihres Nichtwählens. Und 23 Prozent sagten, dass keiner der Kandidaten ansprechend gewirkt habe.

Wählen gegen den Amtsinhaber

Die Enttäuschung im Hinblick auf das politische System Österreichs konnte vor allem Walter Rosenkranz in Stimmen umsetzen – ihn wählten überdurchschnittlich viele Arbeiter und Selbstständige sowie Menschen mittleren Alters. Allerdings konnte er nur sieben von zehn FPÖ-Präferenten gewinnen – 15 Prozent der Freiheitlichen wählten Gerald Grosz. Das meistgenannte Argument für Rosenkranz war in Hajeks Umfrage nämlich ein negatives: 30 Prozent der Rosenkranz-Wähler wollten vor allem Van der Bellen abwählen. 28 Prozent nannten ihn den am ehesten wählbaren Kandidaten, für 17 Prozent der Rosenkranz-Wähler waren Erfahrung und Kompetenz ihres präferierten Kandidaten entscheidend.

Von den Grosz-Wählern wurde ebenfalls häufig (18 Prozent) das Argument genannt, dass ihr Kandidat die Regierung zu entlassen versprochen habe. Dazu kommt, dass jeder fünfte Grosz-Wähler den Kandidaten auch sympathisch findet – von den Van-der-Bellen-Wählern nannte nur jeder elfte Sympathie als Motiv.

Womit Wlazny punkten konnte

Vor allem aus Sympathie wurden dagegen die Stimmen für Wlazny abgegeben: 26 Prozent der "Marco Pogo"-Wählerinnen und Wähler bezeichneten ihren präferierten Kandidaten in der Hajek-Umfrage als "ehrlich, authentisch, sympathisch". Und er wird als junger, dynamischer Politiker gesehen, der frischen Wind und neue Ideen einbringt.

Dies schlägt sich auch in der Verteilung der Stimmen nieder: Wlazny konnte nach deckungsgleichen Berechnungen von Sora und Hajek 20 Prozent der Jungwähler (unter 30 Jahre) für sich gewinnen, aber nur drei Prozent der Stimmen von Menschen über 60 lukrireren. Hajek rechnete auch aus, woher Wlazny seine Stimmen bekommen hat: Gut ein Viertel der Neos-Präferenten und ein Achtel der bekenndenen SPÖ-Wählerschaft hat am Sonntag für Wlazny gestimmt.

Tassilo Wallentin punktete laut Hajek vor allem mit Kompetenz, Intelligenz und juristischer Ausbildung (26 Prozent). Seine Wählerschaft kommt aus allen Parteilagern außer dem der Grünen. Die Grünen stimmten in hohem Maße für ihren Ex-Parteichef Van der Bellen – dieser bekam aber auch viele Stimmen aus dem ÖVP- und SPÖ-Lager. Die FPÖ-Wählerschaft dürfte kaum Van der Bellen gewählt haben – aber nur 71 Prozent wählten den Parteikandidaten Rosenkranz, 15 Prozent der Freiheitlichen wählten Grosz, neun Prozent Wallentin, drei Prozent Wlazny und ein Prozent Brunner.

Erste Lehren aus der Wahl

Die Wahlforscher haben auch erhoben, was die Politik insgesamt aus der Wahl lernen kann. Schon im Mai 2022 hatte Market im Auftrag des STANDARD erhoben, dass Van der Bellen zwar von 68 Prozent als "ruhige, verlässliche Figur" im politischen System gesehen wird – dass aber 35 Prozent völlig und 29 Prozent überwiegend der Forderung zustimmen, er möge die Regierung stärker kontrollieren. Dieser Wunsch hat sich bis Ende September nicht verändert, wie Market-Daten zeigen.

Sora kommt in der Wahltagsbefragung mit anderer Fragestellung zu einem ähnlichen Schluss: Der Bundespräsident soll sich aktiv in die Innenpolitik einmischen, finden demnach 59 Prozent. Allerdings wünscht man sich den Bundespräsidenten nicht allzu aktiv: Eine Mehrheit von 56 Prozent erwartet, dass sich das Staatsoberhaupt der parlamentarischen Mehrheit unterordnet.

Und wie geht es weiter? Peter Filzmaier präsentierte im ORF-Fernsehen Sora-Daten, die nahelegen, dass 40 Prozent jedenfalls und weitere 32 Prozent überwiegend bereit sind, auch einen Bundespräsidenten zu akzeptieren, den sie selbst nicht gewählt haben.

Das war in der Zweiten Republik immer Konsens. Filzmaier warnt allerdings davor, sich von diesen Prozentzahlen täuschen zu lassen: Mehr als eine Million Wahlberechtigte wird von jenen Befragten repräsentiert, die nicht bereit sind, einen anderen als den eigenen Kandidaten als Staatsoberhaupt anzuerkennen, was ein mittelfristiges Demokratieproblem darstellen dürfte. (Conrad Seidl, 10.10.2022)