"Hass lässt sich nicht rechtfertigen, Empörung nimmt dagegen Maß an dem, worüber sie sich empört", sagt Philosophin Hilge Landweer.

Foto: Florian Lechner

Als im Rahmen des Philosophicums Lech über Hass disputiert wurde, stieß Philosophin Hilge Landweer beherzt eine Tür in die Wirklichkeit auf: Das Gefühl zorniger Ablehnung gründe in Erfahrungen der Demütigung. Das Geißeln von Missständen könne gerechte Empörung hervorrufen. Allzu häufig aber menge sich in lodernden Zorn kalte Verachtung: Landweer über die illusorische Erfahrung eigener Überlegenheit – und über Sozialtechniken der Akzeptanz.

STANDARD: Zwischen den Regungen von Hass und Verachtung findet eine Art von Austausch statt. Wird Hass dadurch eine Aufwertung zuteil?

Landweer: Das Gefühl der Verachtung wird von denen, die sie hegen, oft gar nicht wahrgenommen. Hassende interpretieren ihren eigenen Hass häufig um. Verachtung ist demgegenüber das angenehmere Gefühl, weil es mit einem Ausdruck der Überlegenheit verbunden ist.

STANDARD: Sie nennen es: ein Sich-Aufrichten.

Landweer: Dazu gehört das Auf-andere-Herabsehen. Mein Gegenüber wird von mir als minderwertig wahrgenommen. Darin liegt die Gefahr der Verachtung.

STANDARD: Existiert in der Geschichte der Moderne nicht gelegentlich die Tendenz, Hass als Produktivkraft zu benützen?

Landweer: Ästhetisch?

STANDARD: Dadurch auch moralisch. Es gibt "schwarze Moralisten", belletristische Autoren wie Jonathan Swift oder Thomas Bernhard. Bei denen spielte Hass rhetorisch eine Rolle. Als Mittel, um eine unleidliche Wirklichkeit im Namen der Moral infrage zu stellen.

Landweer: Dazu bedürfte es eines äußerst komplexen Prozesses der Übersetzung, um produktiv zu werden. Nur wenigen ist das gegeben. Autoren müssten zunächst realisieren, was sie so sehr hassen. Selbst dann handelte es sich noch um Empörung über die von ihnen vorgefundenen Verhältnisse. Wirklich gehasst werden eigentlich nur Menschen. Von guten Autorinnen und Autoren wäre zu verlangen, dass sie ihre Gefühle zu sezieren vermögen, dann erhält man atmosphärische Beschreibungen des Üblen und Bösen. Solche Beschreibungen können in der Tat Welten erschließen. Ich denke bloß, dass nur die allerwenigsten ihre negativen Gefühle in der beschriebenen Weise nützen. Die meisten schieben sie weg oder deuten sie um.

STANDARD: Der "linke" Diskurs von vor 30, 40 Jahren hätte die Zwangsverhältnisse, die der Kapitalismus angeblich gesetzmäßig hervorbringt, als schlechthin hassenswert deklariert.

Landweer: Er hätte – und hat – sie eher als empörend beschrieben. Das wäre Kritik an den Verhältnissen. Kritik passiert aus dem Gefühl heraus, dass dasjenige, was von ihr vorgefunden wird, nicht rechtens sei. Es handelt sich um Ungerechtigkeiten. Das Gefühl, das genau diese Empfindung ausdrückt, heißt Empörung. Hass ist niemals ein Gerechtigkeitsgefühl. Er fixiert sich auf den Gehassten und unterstellt ihm irgendwelche Eigenschaften oder Taten. Er lässt sich nicht rechtfertigen. Empörung dagegen nimmt Maß an dem, worüber sie sich empört: Die Ungerechtigkeit muss der Größe des Gefühls entsprechen.

STANDARD: Der neoliberale Kapitalismus hegt das Leitbild eines Individualismus um jeden Preis, der auf das unumgängliche Maß der Unterscheidbarkeit setzt. Wir geraten in Spannungsverhältnisse zueinander, selbst wenn wir das gar nicht wollen. Setzt das nicht einen Anflug von Verachtungsbereitschaft voraus?

Landweer: Zu sagen, wir wären immer schon dazu aufgefordert, einander zu verachten, empfände ich als zu stark. Es gibt, um mit Michel Foucault zu sprechen, eine Normalisierungsmacht, diese setzt uns in ein Verhältnis zueinander. Foucault nannte das die Macht der Disziplin, die sich in uns körperlich niederschlägt. Damit sind immer Gefühle verbunden, solche des Neides, etwa auf diejenigen, die etwas besser können. Die lassen sich aber auch als Ansporn gebrauchen. Das bedeutet etwa, seine Verletzlichkeit nicht zu zeigen. Verachtung liegt einem dadurch immer schon näher als ein Gefühl der Kränkung.

STANDARD: Verachtung passiert stets vertikal?

Landweer: Ich verachte denjenigen, der unter mir steht. Wenn das normalisierend wirkt, bedeutet das tatsächlich die Förderung von Verachtung. Ich würde jedoch keinesfalls sagen, dass wir einem solchen Mechanismus wehrlos ausgeliefert sind. Wir können dieses Verhältnis durchschauen, und wir können uns selbstkritisch dazu verhalten.

STANDARD: Die konditionierende Macht der Verhältnisse ist nicht ausschlaggebend?

Landweer: Wir sind trotz allem immer noch frei, ein Umstand, den auch Foucault nicht bestritten hätte. Er ging nie davon aus, dass die Verhältnisse uns vollständig determinieren. Er hat nur gezeigt, wie uns die Verhältnisse im Nacken sitzen oder in unsere DNA eingehen. Das versetzt uns immer noch in die Lage, sie zu erkennen. Dann können wir anders auf sie reagieren als in "Konditionierungen". Wir sind frei, Abstand zu nehmen. Natürlich können wir nicht als Einzelne die Gesellschaft umkrempeln. Auch nicht im spontanen Zusammenschluss mit irgendeiner Gruppe.

STANDARD: Wir können kritisch sein.

Landweer: Eine solche Kritik ist nicht nichts, sie bewirkt etwas in unserer Haltung. Wie wir fühlen, ist etwas Politisches, nichts Individuelles. Wir sind geprägt und trotzdem frei. Wir müssen selbst eine Politik der Gefühle entwickeln und uns darüber austauschen.

STANDARD: Müssen wir eine "Kultur der Ablehnung" einüben, wie Ihr Philosophenkollege Christoph Demmerling vorschlägt?

Landweer: Man sollte nicht zu schnell eine regulative Idee einsetzen. Natürlich wäre eine solche Kultur schön. Sie setzt aber voraus, dass buchstäblich alle daran beteiligt sind. Aber alle haben sich doch noch gar nicht zu Wort gemeldet. Wer sind überhaupt alle? Es melden sich immer diejenigen zu Wort, die nach oben gelangt sind.

STANDARD: Sie glauben nicht ohne weiteres an deliberative Verständigungsverhältnisse? Alle informieren sich gleichmäßig über die Angelegenheiten der Allgemeinheit – und klären diese ab?

Landweer: Vielen bleibt der Zugang zur Verständigung von vornherein versperrt. Mit wem wollen wir, nur zum Beispiel, in Afghanistan über die afghanischen Verhältnisse sprechen? Etwa mit den Taliban? Mit den Menschen, die verschleiert in Häuser eingesperrt werden? Mit denjenigen, die Afghanistan fluchtartig verlassen haben? Trotzdem bleiben wir auf die Idee von Öffentlichkeit angewiesen. Wir müssen sehen, wie viel Öffentlichkeit wir herstellen können und welches Maß an Ablehnung erträglich ist. Ablehnung kann unerträglich sein. Und wenn man nur über die anderen redet, solche, die am Diskurs gar nicht teilnehmen, dann ist das schlicht bevormundend. Wir sollten keinesfalls verachten, aber zu unseren Werten stehen. Und sie nicht verstecken. (Ronald Pohl, 11.10.2022)