Nach Monaten der Ruhe seit Juni dieses Jahres war auch Kiew wieder Ziel russischer Angriffe.

Foto: Reuters / Gleb Garanich

Vergangenen Samstag wurde die Kertsch-Brücke zur von Russland annektierten Halbinsel Krim durch eine Bombenexplosion schwer beschädigt. Nach der russischen Logik, dass die Krim zu Russland gehört, wurde der Anschlag in Moskau als feindlicher "Terrorakt" eingestuft. Die Antwort darauf folgte am Montag in Form eines großflächigen Angriffs auf Ziele in der gesamten Ukraine.

Frage: Was genau ist am Montag passiert?

Antwort: Insgesamt hat Russland nach offiziellen Angaben aus Kiew am Montag 83 Raketen auf verschiedene Städte in der Ukraine abgefeuert. 41 davon habe die ukrainische Luftabwehr abgeschossen. Bei dem großflächigen Angriff starben mehrere Zivilisten, zudem gab es dutzende Verletzte. Elf wichtige Infrastruktureinrichtungen in Kiew und in acht weiteren Regionen wurden nach ukrainischen Angaben beschädigt. Aber auch Wohnhäuser und andere Bauten wurden getroffen. In zahlreichen Gegenden, zum Beispiel auch in der Großstadt Charkiw, fielen Strom und Wasser aus.

Frage: Was war der Auslöser für die Angriffe?

Antwort: Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Raketenangriffe Moskaus als Reaktion auf die "Terroranschläge" gegen russisches Gebiet bezeichnet. Konkret meinte er die Kertsch-Brücke zur Halbinsel Krim. Zugleich drohte er Kiew am Montag bei einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats mit einer noch härteren "Antwort", sollten die "ukrainischen Angriffe" fortgesetzt werden. Die Beschädigung der Krim-Brücke hat vor allem symbolischen Wert. Diese steht für die als "Heimholung" dargestellte Annexion der ukrainischen Halbinsel. Putin persönlich steuerte ein Baufahrzeug über die Brücke. Nach dem Angriff auf militärische Einrichtungen auf der Krim im August wurde der Bevölkerung versichert, die Brücke sei optimal geschützt, zum Beispiel durch Flugabwehrsysteme. Der Anschlag verursacht also auch ein Glaubwürdigkeitsproblem, aber auch die militärische Logistik ist beeinträchtigt.

Frage: Von wo wurden die russischen Raketen auf die Ukraine abgefeuert?

Antwort: Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations (ECFR), geht gegenüber dem STANDARD davon aus, dass vor allem Marschflugkörper vom Typ Kalibr aus Russland, aus Belarus und von der russischen Schwarzmeerflotte abgefeuert wurden. Erste Bilder zeigen auch tiefe Krater, weshalb Gressel es für möglich hält, dass Iskander-Raketen ebenfalls zum Einsatz gekommen sind.

Frage: Wie steht es um die ukrainische Flugabwehr?

Antwort: Die Ukraine verfügt über das S-300-System aus russischer Produktion, das durch Lieferungen aus der Slowakei verstärkt wurde. Damit konnte auch rund die Hälfte der russischen Raketen abgeschossen werden. Doch auch hier hat die Ukraine mit einem generellen Problem zu kämpfen: Munitionsmangel. "Man feuert dann auch nicht gleich mit allem, was man hat, weil vielleicht morgen schon der zweite Angriff folgt", erklärt Gressel das Dilemma der ukrainischen Luftabwehr. Weitere Flugabwehrsysteme wurden versprochen, unter anderem von Deutschland und den USA, doch das dauert. "Im Gegensatz zu anderer Ausrüstung hat Deutschland Flugabwehrsysteme nicht auf Vorrat, die müssen erst gebaut werden", sagt Gressel. Regulär würde die Produktion einer Flugabwehrbatterie, so der Experte, etwa zwei Jahre brauchen. Nun beeile man sich, doch benötige man immer noch rund sechs Monate. Damit könne man dann eine Stadt beschützen, so der Experte. "Das Problem ist, dass die Ukraine so ein großes Land ist und es so viele mögliche Ziele gibt."

Frage: Was kann Kiew machen, um künftig solche Vergeltungsschläge zu verhindern?

Antwort: Einige der Flugabwehrsysteme wurden im Zuge der Gegenoffensive in Richtung Osten verfrachtet, so Gressel. Das habe die Luftverteidigung in anderen Landesteilen etwas ausgedünnt. Inwiefern das ausgeglichen werden kann, hängt auch davon ab, wann Nachschub aus dem Westen kommt.

Frage: Ist Russland zu weiteren solchen Angriffen überhaupt fähig?

Antwort: Bei Angriffen auf Odessa hätten die russischen Truppen Luftabwehrraketen verwendet, um Bodenziele anzugreifen. Dabei seien die gar nicht dafür geeignet, sagt Militärexperte Gressel. Es zeigt also, dass die militärischen Ressourcen hier an Grenzen stoßen. Wie viele Raketen Russland aber tatsächlich noch besitzt, ist nicht abschätzbar.

Frage: Inwiefern wird das den Kriegsverlauf verändern?

Antwort: Gar nicht, sagt Gustav Gressel. "Es ging darum, die Hardliner in Russland zu beruhigen, den innenpolitischen Druck zu senken. Militärisch hat das keine Auswirkungen", sagt Gressel.

Frage: Belarus und Russland wollen nach Angaben des belarussischen Präsidenten Lukaschenko eine gemeinsame Eingreiftruppe bilden. Ist das der Kriegseintritt von Belarus?

Antwort: Der Druck Russlands auf Belarus, direkt einzugreifen, ist in den vergangenen Tagen massiv gestiegen, so Gressel. Lukaschenko aber wolle sich herauswinden, weil er weiß, dass der innenpolitische Druck danach sehr hoch sein würde. Sollte Belarus aber tatsächlich in den Krieg eintreten, wären auch hier die Konsequenzen überschaubar. "Belarus hat sechs Brigaden mit offiziell jeweils 4000 Streitkräften. Tatsächlich ist die Armee aber geschwächt, und man kann von jeweils 1500 Soldaten ausgehen", sagt Gressel. Würde Belarus die Ukraine tatsächlich angreifen und den Westen des Landes oder Kiew ins Visier nehmen, bräuchte es starke russische Unterstützung, die derzeit nur schwer möglich wäre. Deshalb, so Gressel, sei solch eine Offensive unwahrscheinlich.

Frage: Wie waren die internationalen Reaktionen?

Antwort: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj konnte auf internationale Unterstützungsbekundungen zählen. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz, der zurzeit den G7-Vorsitz innehat, habe Selenskyj die Solidarität Deutschlands und der anderen G7-Staaten zugesichert. Sie werden heute, Dienstag, in einer gemeinsamen Videoschaltung mit Selenskyj beraten. Das EU-Ratsvorsitzland Tschechien nannte die Raketenangriffe einen Ausdruck von "Zynismus und Barbarei". Auch China rief zur Deeskalation auf. Aus Österreich meldete sich Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) via Twitter: "Der russische Beschuss von ziviler Infrastruktur in Kiew und anderen Städten der Ukraine ist abscheulich und feig." (Kim Son Hoang, Manuela Honsig-Erlenburg, 10.10.2022)