Raketenangriffe auf zahlreiche ukrainische Städte, gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur, Tod und Leid für Tausende: Wirklich neu ist all das eigentlich nicht in diesem Krieg. Bald nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wurden Raketeneinschläge auch in westlichen Landesteilen gemeldet, immer wieder gab es Tote auch fernab der Front. Und doch ist der Krieg mit dem Bombenhagel vom Montag in eine neue Phase getreten.

Der Krieg in der Ukraine ist in eine neue Phase getreten.
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Der Unterschied liegt in der Begleitmusik aus Moskau. War die russische Führung anfangs noch bemüht, auch zerstörte zivile Einrichtungen als strategisch relevante Ziele darzustellen, sind nun die Masken gefallen. Präsident Wladimir Putin hat die jüngsten Raketenangriffe als Reaktion auf "Terroranschläge" gegen russisches Gebiet bezeichnet. Wobei sich die Definitionen dessen, was "russisches Gebiet" ist, freilich voneinander unterscheiden: Weder die Schwarzmeerhalbinsel Krim, deren Brückenverbindung zum russischen Festland am Samstag durch eine Explosion schwer beschädigt wurde, noch die jüngst von Moskau nach Scheinreferenden "annektierten" Gebiete in der Süd- und Ostukraine, wo Kiew erfolgreiche Rückeroberungen meldet, werden international als "russisch" anerkannt.

Dass Putin dieser Vergeltungsrhetorik nun freien Lauf lässt, hat auch damit zu tun, dass er innenpolitisch immer mehr unter Druck gerät. Denn es sind nicht die marginalisierten und zum Schweigen gebrachten Kriegskritiker, die ihn in die Enge treiben, sondern die Hardliner, die den Einsatz noch brutalerer Mittel gegen Kiew fordern.

Gebremste Siegesgewissheit

Putin wird immer mehr von seiner eigenen Erzählung eingeholt; von seiner Vision eines starken, überlegenen Russlands mit einer historischen Bestimmung zur Dominanz im postsowjetischen Raum – ja vielleicht auch darüber hinaus. Dass die militärischen Erfolge, die diesen Anspruch untermauern sollen, bisher weitgehend ausgeblieben sind, mag Putins Siegesgewissheit gebremst haben, nicht jedoch die Entschlossenheit derer, die ihm immer offener strategisches Versagen vorwerfen.

Dass man den jüngsten Raketenbeschuss auch als Versuch sehen kann, den Kriegsenthusiasten den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist nur eine Facette der Absurdität dieses Krieges. Ebenso wie die bedrohliche Tatsache, dass die meisten Eskalationsschritte längst viele verschiedene Nutznießer haben.

Es war schon bei der Debatte um die Lecks in den Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 nicht anders: Profitiert in erster Linie Russland, weil die Sorge um die Energieversorgung Europas weiter angestachelt wurde? Profitieren eher die Ukraine, Polen oder die baltischen Staaten, die die russisch-deutsche Gasverbindung immer schon skeptisch gesehen haben? Oder profitieren die USA, die nun mehr teures Flüssiggas nach Europa verkaufen können? Viele Fragen, viele Anschuldigungen, kaum Antworten.

Die Explosion an der Krim-Brücke hat auch hier eine neue Phase eingeleitet: Klar, die Beschädigung der strategisch und symbolisch wichtigen Verkehrsverbindung wurde in der Ukraine bejubelt. Und sie bringt Rückenwind für die radikalsten Kriegstreiber in Russland. Putin, der Getriebene, geht aber leer aus. Freilich hat er immer noch genügend Mittel, die er im innen- und weltpolitischen Machtpoker einsetzen kann. Der Blutzoll, den Soldaten und Zivilbevölkerung zahlen müssen, dürfte aber hoch sein. (Gerald Schubert, 10.10.2022)