Gefühlt seit Jahrzehnten liegt der erste funktionsfähige Fusionsreaktor immer 30 Jahre in der Zukunft. Die beinahe schon sprichwörtliche "Fusionskonstante" findet sich auch in der Roadmap von Eurofusion wieder: Der Fahrplan des europäischen Forschungskonsortiums sieht vor, dass der Iter-Nachfolger Demo 2040 in Bau gehen soll. Nach 2050 könnte er erstmals Fusionsstrom ins Stromnetz einspeisen, so lautet zumindest die Hoffnung.

Dass beim europäischen Riesenprojekt Iter am südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache nichts weiterzugehen scheint, liegt wohl weniger an organisatorischen Hürden als vielmehr an den enormen technischen Herausforderungen, mit denen man es zu tun bekommt, wenn man die Fusionsenergie bändigen möchte. Ziel ist es letztlich, kontinuierlich mehr Energie aus der Fusion von Kernteilchen zu gewinnen, als für die komplexe Technik aufgewendet werden muss – aber davon ist man noch ein paar Schritte entfernt.

Bei der Fusionsreaktion wird 100 Millionen Grad Celsius heißes Plasma in einem torusförmigen Vakuumgefäß gehalten.
Foto: Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP)

100 Millionen Grad Celsius

Damit die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu Helium-4 fusionieren, bedarf es extrem hoher Temperaturen und Drücke. Außerdem braucht man eine Möglichkeit, das gut 100 Millionen Grad Celsius heiße Deuterium- und Tritium-Plasma von den Wänden der Donut-förmigen Fusionskammer fernzuhalten. Das gelingt mit starken steuerbaren Magnetfeldern. Mittlerweile gibt es mehrere unterschiedliche technische Lösungen, keine ist ideal.

Am bekanntesten sind die Typen Stellarator (Wendelstein 7-X) und Tokamak (Iter). Letzterer ist weniger komplex, was die Anlagengeometrie betrifft, kämpft aber mit Stabilitätsproblemen im Plasmastrom. Bei diesen Plasma-Instabilitäten werden kurzzeitig energiereiche Teilchen an die Reaktorwand geschossen, die dadurch nachhaltig beschädigt werden kann.

Physikerinnen und Physiker sprechen von sogenannten "Typ-I ELM"-Ausbrüchen. Ein Team um Forschende des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP) und der Technischen Universität Wien hat nun eine Möglichkeit vorgestellt, die "Typ-I ELM"-Instabilitäten in den Griff zu bekommen.

Ein Mittel gegen Plasmaausbrüche

Das Plasma komplett von der Reaktorwand fernzuhalten sei auch keine Option, schließlich müsse neuer Brennstoff zugeführt und das bei der Fusion entstandene Helium abtransportiert werden, meinte Friedrich Aumayr von der TU Wien. Die Details der Dynamik im Inneren des Reaktors sind kompliziert: Die Bewegung der Teilchen hängt von Plasmadichte, Temperatur und Magnetfeld ab. Je nachdem, wie man diese Parameter wählt, sind unterschiedliche Betriebsarten möglich. Eine jahrelange Zusammenarbeit des IPP und der TU Wien mündete nun in einen Betriebsmodus, der die besonders zerstörerischen Plasmainstabilitäten vom Typ-I ELM verhindern kann.

Querschnitt durch das ringförmige Plasma des Tokamak-Experiments ASDEX Upgrade. Links die übliche Betriebsart, bei der es zu Ausbrüchen vom Typ-I ELMs kommt. Rechts die neue Betriebsart mit der eher dreieckigen Querschnittsform.
Illustr.: G. Harrer & L. Radovanovic, TU Wien

Schon vor einigen Jahren zeigten die Experimente ein Rezept gegen die gefürchteten Typ-I ELMs: Das Plasma wird durch die Magnetspulen leicht verformt, sodass sein Plasmaquerschnitt nicht mehr elliptisch ist, sondern einem abgerundeten Dreieck ähnelt. Gleichzeitig erhöht man speziell am Rand die Dichte des Plasmas, was zu einer Art "Schutzschicht mit Gas" führt. Damit konnten die Typ-I-ELM-Ausbrüche hintangehalten werden. Für die Betriebsart müsse der Reaktor nicht speziell angepasst werden, die Regelung erfolge ausschließlich über die Einstellung der Magnete, sagte Georg Harrer vom Institut für Angewandte Physik der TU Wien.

Nächster Schritt: Jet

"Zunächst dachte man, das sei ein Szenario, das nur in den momentan laufenden kleineren Maschinen wie ASDEX Upgrade am IPP in Garching auftritt und für einen großen Reaktor irrelevant ist", erklärte Lidija Radovanovic von der TU Wien. "Mit neuen Experimenten und Simulationen konnten wir aber nun zeigen: Die Betriebsart kann auch in für Reaktoren vorgesehenen Parameterbereichen die gefährlichen Instabilitäten verhindern."

In der Praxis umgesetzt hat man dies schon an einem kleinen Fusionsreaktor in der Schweiz und am doppelt so großen "ASDEX Upgrade" in Deutschland. Noch eine Stufe größer ist der "Joint European Torus" (Jet) in Culham (Großbritannien). "Wir dürfen im nächsten Schritt unser Szenario am Jet ausprobieren", sagte Harrer.

Viele kleine Bursts

Der Vorteil des in den "Physical Review Letters" vorgestellten Ansatzes ist, dass bei der Dreiecksform mehrere tausend Mal pro Sekunde kleine Instabilitäten auftreten. "Diese kleinen Teilchen-Bursts treffen die Wand des Reaktors schneller, als die sich aufheizen und wieder abkühlen kann", erklärte Harrer. "Daher spielen diese einzelnen Instabilitäten für die Reaktorwand keine große Rolle."

"Unsere Arbeiten stellen einen Durchbruch im Verständnis des Auftretens und der Verhinderung von großen Typ-I ELMs dar", sagte Elisabeth Wolfrum, Forschungsgruppenleiterin am IPP in Garching und Professorin an der TU Wien. "Die von uns vorgeschlagene Betriebsart ist wohl das vielversprechendste Szenario für Plasmen in künftigen Fusionskraftwerken." (tberg, red, 11.10.2022)