Heute gleicht eine Bundespräsidentenwahl einer ruhigen, maßvollen Veranstaltung – nicht so 1986, als es um Ehrlichkeit und Pflichterfüllung ging.

Foto: Matthias Cremer

Die Wiederwahl unseres Herrn Bundespräsidenten glich dem ruhigen Herbstwetter voller Goldtöne: Maßvoll dankte das Wahlvolk dem Hüter unseres Staatsganzen. Die selbstverständliche Allgegenwart des Staatsoberhaupts erinnert an die Reformjahre der Ära Kreisky. In kindlichem Zutrauen erhob ich, ein kleiner Babyboomer, den Blick zu den hinter Glas gesetzten Porträts von Franz Jonas und Rudolf Kirchschläger: zwei Herren, die mir, der ich bloß eine verwitwete Oma besaß, den Großvater ersetzen halfen.

Undenkbar, dass der gelernte Schriftsetzer Jonas für eine "Bierpartei" angetreten wäre. Schon früh engagierte sich der rechtschaffene Rote in der Abstinenzbewegung. Auch vom Nachfolger ist keine Teilnahme an ausschweifenden Gelagen – geschweige denn mit russischen Staatsmännern – überliefert. Im Gegenteil: Kirchschläger mahnte, in gewohnt einlullenden Worten, eine umfassende "Trockenlegung" der Gesellschaft an. Dabei meinte er bloß die "sauren Wiesen" der Korruption.

Schlagartig belebter wurde die Debatte mit Kurt Waldheims Antreten. Der hagere Berufsdiplomat wollte sich seine prächtigen Wahlaussichten nicht zunichtemachen lassen. Hinweise auf eine Verstrickung in die NS-Vernichtungsmaschinerie tat er ab: Er hätte ja, wie Hunderttausende andere auch, bloß seine "Pflicht erfüllt".

Als die Fetzen flogen

Schlagartig wurden aus heimischen Haushalten Debattenschauplätze. Die Fetzen flogen. Die Teilnehmer am Weltkrieg beklagten den Unverstand ihrer Kinder. Diese richteten bange Fragen an sie, mit der Bitte um Aufklärung: Papa, wo warst du, als die Kommandos der Nazis im Rückraum der Front ihr organisiertes Mordhandwerk betrieben? In Erinnerung geblieben sind die trotzigen Bemerkungen der meisten Onkel, Väter und Großväter. Waldheim vermochte sich seines überwältigenden Wahlsieges kaum zu erfreuen.

Beehrte er als Premierengast die Kammerspiele der Josefstadt, saß er reglos hinter der Rangbrüstung. Kein Ausdruck lachenden Einverständnisses kräuselte ihm die Miene. Trotz realer Gegenwart schien Kurt Waldheim der Welt zur Gänze entrückt. (Ronald Pohl, 12.10.2022)