Userinnen und User berichten von schwitzenden Händen vor dem Einkauf, von der Angst, dass das Brot oder die Nudeln schon wieder 20 Cent teurer geworden sind.

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"Mein Kind lebt in Armut, weil seine Mama krank ist", schreibt Userin @Finkulasa auf Twitter. "Er kann nicht einfach so mal mit einem Freund zur Trampolinhalle oder ins Kino. Er kann nicht einfach Schuhe kaufen, die ihm gefallen." Seit Monaten berichtet Anni W. als @Finkulasa aus ihrem Leben als armutsbetroffene Alleinerzieherin, sie ist es auch, die im Mai als Erste den Hashtag #IchBinArmutsbetroffen verwendete. Tausende schlossen sich an, erzählten von der Angst vor der nächsten Stromrechnung, von teuren Medikamenten und von der Beschämung, die gesellschaftliche Teilhabe zusätzlich erschwert.

"Armut ist nicht sexy"

Aus dem Hashtag ist inzwischen eine soziale Bewegung geworden, bei Foto-Flashmobs tragen Aktivistinnen und Aktivisten ihren Protest auch auf die Straße. Eine von ihnen ist die Hamburgerin Susanne Hansen. Gemeinsam mit anderen arbeitet sie gerade daran, für eine Kundgebung am 15. Oktober zu mobilisieren. "Armut ist nicht sexy", so der Slogan der Veranstaltung vor dem Kanzleramt in Berlin.

Die Zahl der Armutsbetroffenen in Deutschland ist zuletzt drastisch gestiegen. 13,8 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze, berichtet der Paritätische Gesamtverband in seinem Armutsbericht 2022 – 600.000 mehr als noch vor der Pandemie. Das sei ein "trauriger Höchststand". Die Inflation werde die Situation weiterverschärfen, befürchtet der Verband.

Angst vor dem Einkauf

Im September präsentierte Kanzler Olaf Scholz das dritte Entlastungspaket der Ampelkoalition, darin war unter anderem eine Reform des Wohngelds enthalten. Statt 640.000 Menschen werden es künftig rund zwei Millionen beziehen können. "Das ist natürlich eine gute Maßnahme. Aber insgesamt reicht es nicht", sagt Aktivistin Susanne Hansen. Oft sei schon am 10. oder am 15. des Monats kein Geld mehr da, erzählen ihr Betroffene. Unter #IchBinArmutsbetroffen berichten unzählige Userinnen und User von schwitzenden Händen vor dem Einkauf, von der Angst, dass das Brot oder die Nudeln schon wieder zwanzig Cent teurer geworden sind. Die "Tafel", die in Deutschland gespendete Lebensmittel weiterverteilt, hat vielerorts einen Aufnahmestopp verhängt. "Es gibt wirklich schwerkranke Menschen, die überlegen, ob sie sich jetzt Essen oder Medikamente kaufen sollen. Es reicht vorne und hinten nicht", sagt Hansen. In einer Petition fordert die Initiative daher unter anderem eine Grundsicherung für Kinder und die Anhebung der sogenannten Regelsätze für Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II (Hartz IV) auf ein "lebenswürdiges Niveau".

Auch in Österreich schlug die Armutskonferenz zuletzt Alarm: In der Teuerungskrise brauche es "ein Arbeitslosengeld, das vor Absturz bewahrt" – und somit eine Erhöhung. 52 Prozent der arbeitslosen Menschen sind hierzulande armuts- und ausgrenzungsgefährdet.

Auf Augenhöhe

"Die Regierung nimmt uns nicht wahr. Und ich denke, die wissen auch tatsächlich nicht, was es bedeutet, arm zu sein", sagt Hansen. Der Schritt in die Öffentlichkeit hat die Alleinerzieherin große Überwindung gekostet. "Ich habe mich sehr geschämt, dass ich arm bin. Geschämt, dass andere ihren Kindern tolle Dinge ermöglichen können und ich nicht. Deshalb habe ich mich zurückgezogen." Die Aktion #IchBinArmutsbetroffen habe Hansen schließlich Rückenwind gegeben. Gemeinsam mit anderen zog sie im Mai auf die Straße – vor die Hamburger Elbphilharmonie. "Ich hatte großen Respekt davor. Aber da war plötzlich diese Gemeinschaft, und das hat Selbstvertrauen und Mut gegeben", sagt Hansen. Auch die Sichtbarkeit im Netz, das Gefühl, nicht allein zu sein, habe viele bestärkt.

Der nächste Schritt für die Bewegung ist die Kundgebung am 15. Oktober, unterstützt wird sie von der Stiftung OneWorryLess Foundation. Armutsbetroffene würden endlich für Armutsbetroffene sprechen – das sei das Besondere an der Kundgebung, sagt Hansen. Denn obwohl Armut zuletzt Thema auf unzähligen Podien und in Talkshows gewesen sei, würden die Betroffenen selbst kaum als Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auf Augenhöhe eingeladen. Viel eher würden sie in skandalisierenden TV-Sendungen vorgeführt. "Am 15. aber werden wir gehört, weil auch nur wir sprechen. Da sind wir durchaus stolz darauf", sagt Hansen. Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD hat indes abgesagt – ihm wollten die Aktivistinnen und Aktivisten ihre Petition persönlich überreichen. "Wir werden sie trotzdem übergeben, nur etwas anders", sagt Hansen. (Brigitte Theißl, 14.10.2022)