Die präkolumbischen Azteken haben den Ruf, in religiösen Angelegenheiten besonders grausam gewesen zu sein. Die archäologisch und durch schriftliche Zeugnisse belegten Menschenopfer waren freilich nicht auf diese eine Kultur der Neuen Welt beschränkt. Auch die Moche, die Inka oder die Maya auf der Halbinsel Yukatan dürften nach allem, was man weiß, zumindest während schwieriger Zeiten Menschen geopfert haben, um ihre Götter zu besänftigen.

Beinahe 10.000 Knochen von 118 Menschen lagen in der Midnight-Terror-Höhle.
Foto: Bruce Minkin, California State University

Midnight Terror Cave

Ein bekannter Fundort mutmaßlicher Opfer der Mayakultur liegt in der Nähe von Belmopan, der Hauptstadt von Belize. Im Jahr 2006 fiel dort ein Dieb auf seiner Flucht in ein tiefes Loch. Als Mennoniten einer nahen Gemeinde den Übeltäter mitten in der Nacht aus der bis dahin unbekannten Höhle retteten, entdeckten sie dort im Schein der Taschenlampen hunderte menschliche Gebeine. Kein Wunder, dass diese Höhle nun den Namen Midnight Terror Cave trägt.

Vermutlich zu Recht, wenn man bedenkt, was ein Team der California State University (CSU), Los Angeles, bei den anschließenden Untersuchungen entdeckte: Insgesamt enthielt die Höhle die Knochen von mindestens 118 Menschen. Zahnanalysen zeigten, dass sich auch Kinder darunter befanden, die laut der Isotopenzusammensetzung mindestens 300 Kilometer entfernt aufgewachsen waren. Dies und die Hinweise auf schwere Verletzungen bei den Toten verriet den Archäologinnen und Archäologen, dass man es hier mit einem Platz für Menschenopfer zu tun hatte, wahrscheinlich zu Ehren des Regengottes Chaak.

Fasern im Zahnstein

Obwohl der spektakuläre Fund nun schon 16 Jahre zurückliegt, sorgen die über tausend Jahre alten Gebeine aus der Midnight Terror Cave immer noch für Überraschungen: Nun hat eine Gruppe um Amy Chan von der CSU bei neuerlichen Untersuchung der Zähne seltsame Fasern entdeckt. Was es damit auf sich hat, bleibt vorerst unklar– mehrere Szenarien kommen infrage.

Die Knochen und Zähne der 118 Menschen, die in der Midnight Terror Cave gefunden wurden, stammten aus der Maya-Klassik zwischen 250 und 925. Im Fokus der Forschenden standen verkalkte Plaques auf den Zähnen der Opfer, auch bekannt als Zahnstein. In diesen lassen sich mit etwas Glück winzige Nahrungsreste und Pollenkörner nachweisen, die nach und nach im Zahnstein eingeschlossen wurden – wertvolle Hinweise auf die Lebenssituation der damaligen Menschen.

Eingeschlossen im Zahnstein einiger Opfer fand Linda Scott Cummings vom Paleo Research Institute in Golden, Colorado, blaue Baumwollfasern.
Foto: Linda Scott Cummings/PaleoResearch Institute

Rituelles Blau

Bei der genauen Untersuchung einiger Zahnsteinproben stieß Linda Scott Cummings, Co-Autorin der Studie, auf zahlreiche Baumwollfasern, und einige davon waren hellblaugefärbt. "Die Entdeckung blauer Baumwollfasern in beiden Proben war überraschend", sagte Chan, immerhin sei Blau im Maya-Ritual eine wichtige Farbe gewesen.

Darauf würden auch frühere Funde hinweisen, bei denen dieser charakteristischer Farbton im Spiel war, berichten die Forschenden im "International Journal of Osteoarchaeology". Man sei ihm vor allem dort begegnet, wo die Maya Zeremonien abgehalten haben. Möglicherweise wurden auch die Körper der geopferten Menschen blau bemalt, meinte Chan.

Woher also kamen die blaugefärbten Fasern im Zahnstein einiger Opfer? Vielleicht durch ein Getränk: Die selben blauen Fasern hatte man auch in einem alkoholischen Agavensaft gefunden, als Beigabe eines Grabes in Teotihuacan, Mexiko.

Geknebelt?

Chan und ihr Team haben freilich eine andere Theorie: Vielleicht hatten die Opfer über einen längeren Zeitraum hinweg blaugefärbte Baumwollknebel im Mund. Wenn diese Menschen längere Zeit in Gefangenschaft waren, könnte der Zahnstein die blauen Fasern aufgenommen haben, sagte Chan. Das würde sich auch mit früheren Erkenntnissen decken, wonach die Maya ihre Gefangenen oft aus großen Entfernungen ins Land gebracht haben.

Das Team räumt allerdings ein, dass der Knebel nur eine von mehreren Erklärungen für die blauen Fasern sei. Zudem variiere die Geschwindigkeit, mit der aus Plaque Zahnstein wird, sodass sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, wann die Fasern eingeschlossen wurden. "Künftige Analysen werden unsere Funde in einen größeren Kontext stellen, und dann werden wir vielleicht zu anderen Schlussfolgerungen gelangen", sagte Chan. (tberg, 12.10.2022)